Ausgefeilte Anklage
Die tunesische Justiz fackelt nicht lang. Bereits im Februar hatte ein Gericht Politiker, Journalisten und ehemalige Regierungsmitarbeiter zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der langjährige Vorsitzende der islamistischen Partei al-Nahda, Rachid Ghannouchi, erhielt eine 22jährige Haftstrafe, der ehemalige Ministerpräsident Hichem Mechichi eine 35jährige. Mechichi war 2021 ins Ausland geflohen, wenige Monate nachdem der tunesische Präsident Kaïs Saïed ihn mitsamt seiner Regierung entlassen und das Parlament aufgelöst hatte. Nun steht erneut ein Mammutprozess gegen 40 Angeklagte auf dem Programm, wegen Verschwörung gegen die Sicherheit des Staats.
De facto ist der autoritäre Präsident Kaïs Saïed der Herr des Verfahrens. Seit er 2021 die Regierung entlassen hat, konzentrierte er die Macht auf sich und unterwarf sich die Justiz. Insbesondere zwei Maßnahmen waren dabei von Bedeutung: Im Juni 2022 entließ er im Zuge einer »Säuberung«, wie er es nannte, per Dekret 57 Richter und Staatsanwälte.
Im August 2022 ließ er über eine neue, von ihm eigenhändig geschriebene Verfassung per Referendum abstimmen, die von der »Teilung der legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen« spricht – Funktionen, die von der Macht des Präsidenten abgeleitet sind, nicht Gewalten, die zu seiner Kontrolle und der der Exekutive dienen. Eine neue Verfassung war auch bitter nötig, die alte von 2014 war schließlich eine »zionistische Verschwörung« zur Zerstörung des Landes, wie Saïed im vorigen Sommer zum Besten gab.
Der neue Prozess wegen Verschwörung gegen die Sicherheit des Staats trägt bereits auf den ersten Blick Saïeds Handschrift: die eines großen Antizionisten und Freunds unterschiedlichster Verschwörungstheorien wie der vom »Großen Austausch«.
Der neue Prozess wegen Verschwörung gegen die Sicherheit des Staats trägt bereits auf den ersten Blick Saïeds Handschrift: die eines großen Antizionisten und Freunds unterschiedlichster Verschwörungstheorien wie der vom »Großen Austausch«. Die besondere Qualität des Prozesses unter der Ägide des Präsidenten zeigt sich in den Anklagepunkten gegen den französischen Intellektuellen Bernard-Henri Lévy. In der Anklageschrift firmiert er als 40. Angeklagter unter dem Namen »Bernard Henry Livy«. Einem auf der Website Mondafrique veröffentlichten Artikel des französischen Journalisten Nicolas Beau zufolge wirft ihm (im folgenden BHL) die Anklage unter anderem vor:
»BHL investiert in Tunesien unter Namen, die er von gewissen tunesischen Juden übernommen hat, und er wird mit subversiver Authentizität und berberischen Sezessionsbewegungen in Verbindung gebracht. In Algerien hat er Verbindungen zu bewaffneten islamischen Gruppen. Er ist Teil der israelischen Geheimdienste wie dem Mossad, dem Shin Bet und den Qayyun (die Attentatsoperationen außerhalb Israels durchführen).« Gleichzeitig Islamist und Mitglied von Mossad und Shin Bet, das muss man erst mal hinbekommen. Aber damit nicht genug: »BHL versuchte seit 2013 bis vor etwa einem Jahr, sich in Tunesien, Algerien und Libyen zu etablieren, um der zionistischen Entität und den mit ihr verbündeten Ländern zu dienen, indem er die Ergebnisse des arabischen Frühlings ausnutzte.« Ertappt, da sieht man mal wieder, wie die zionistische Entität mit dem sogenannten arabischen Frühling den gesamten Maghreb ins Unglück stürzen wollte.
Die »Normalisierung« mit dem zionistischen Erzfeind ist unter allen Umständen zu vermeiden
Aber um etwas konkreter zu werden: »BHL konspiriert gegen den tunesischen Staat, indem er die Phosphatproduktion stört. Ziel ist es, der tunesischen Wirtschaft zu schaden, um sie der Normalisierung mit der zionistischen Entität zu unterwerfen.« Denn die »Normalisierung« mit dem zionistischen Erzfeind ist Kaïs Saïed zufolge unter allen Umständen zu vermeiden.
Aber es geht noch weiter mit den Schurkereien: »Darüber hinaus hat der Verdächtige, BHL, die Ideologie der Freimaurer übernommen und steht in Verbindung mit einigen der Angeklagten in diesem Fall, die an bestimmten Abenden von Clubs in Tunesien, des Rotary Club und des Lions Club, teilgenommen haben, die im Nahen Osten intensiv aktiv sind, um diese Freimaurerideologie zu verbreiten, die darauf abzielt, Wirtschaft, Politik und Waffen zu kontrollieren.«
So agiert die tunesische Justiz nach jahrelangem wohltätigem Einwirken des Präsidenten auf sie. Ihre Urteile sind von derselben Qualität wie ihre Anklagen.