Ilham Alijews Drohungen
Der 13. März markierte für Diplomaten einen Moment, in dem man eben das sagt, was man über einen der vertracktesten zwischenstaatlichen Konflikte sagen muss. »Historisch« sei der Verhandlungsabschluss zwischen Armenien und Aserbaidschan über ein Friedensabkommen und »übereinstimmend mit Präsident Trumps Vision einer friedlicheren Welt«, verkündete US-Außenminister Marco Rubio. Es sei »ein entscheidender Schritt«, so die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hegte bei seiner Südkaukasus-Reise und Besuchen in Eriwan und Baku Anfang April die Hoffnung, es gebe vielleicht »zum ersten Mal die Chance« auf Frieden und Stabilität.
Das Abkommen ist noch kein abschließender Friedensvertrag. Einige der Eckpunkte dürften jedoch schwer nachzuverhandeln sein: So soll die Minsk-Gruppe der OSZE aufgelöst werden. Sie wurde 1992 nach dem ersten Krieg zwischen den beiden einstigen Sowjetrepubliken um die völkerrechtlich umstrittene Region Bergkarabach (auch Nagorny Karabach oder Arzach genannt) eingesetzt, um den Konflikt beizulegen, und wird offiziell von den USA, Russland und Frankreich geleitet. De facto war die Minsk-Gruppe stets ein Papiertiger. Ihre Machtlosigkeit zeigte sich eindrucksvoll beim 44-Tage-Krieg von 2020, bei dem das von der Türkei, Russland und Israel hochgerüstete Aserbaidschan Armenien und die Karabach-Armenier, die sich für sich unabhängig erklärt hatten, besiegte.
In der panturanistischen Ideologie, die in Aserbaidschan wie in der Türkei Anhänger hat, gilt das armenische Kernland und damit die Provinz Sjunik als Störfaktor, der die »Brudervölker« künstlich voneinander trennt.
Die unilateral von Russland eingesetzten »Friedenstruppen« zur Sicherung des Waffenstillstands von 2020 konnten dem jüngsten großen aserbaidschanischen Angriff von 2023 nichts entgegensetzen. Er führte zur »ethnischen Säuberung« Bergkarabachs und der Flucht seiner verbliebenen 100.000 armenischen Bewohner nach Armenien. Ein weiterer Eckpunkt: Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan soll nicht mehr von »Drittstaaten« patrouilliert werden. Damit sind vor allem Russland und die EU gemeint, diese beobachtet seit zwei Jahren im Rahmen der EU-Mission in Armenien (EUMA) mit unbewaffneten Beobachtern die Einhaltung des derzeitigen Waffenstillstands.
Andere Forderungen sind für die armenische Bevölkerung wesentlich schwieriger zu verdauen. Zum Beispiel die nach der Veränderung der Verfassung ihres Staats: Der autokratische aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew verlangt vom armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, dass jegliche Bezugnahme auf Bergkarabach aus der armenischen Verfassung entfernt wird, denn mit den entsprechenden Passagen erhebe Armenien Anspruch auf aserbaidschanisches Staatsgebiet.
Dass ein benachbarter Diktator fordert, das Gründungsdokument des eigenen Landes zu ändern, dürfte für die meisten Armenier kaum zu akzeptieren sein. Paschinjan verwies öffentlich auf die Absurdität von Alijews Begehr. Dennoch schlägt ein Verfassungsreferendum vor. Ob und wann dieses zustande kommt, ist unklar.
Armenien in einer komplexen Position
2026 steht zunächst die Parlamentswahl an. Bis dahin werden Paschinjan und seine Regierungspartei Zivilvertrag (Kaghakaziakan Pajmanagir) wohl weiter für das Friedensabkommen werben. Bei Regionalwahlen Ende März gab es ein erstes Zeichen, das viele seine weitreichende Verhandlungsbereitschaft mit Aserbaidschan nicht goutieren: In der zweitgrößten Stadt Gjumri beispielsweise wurde Zivilvertrag zwar stärkste Kraft, konnte aber anders als bei früheren Abstimmungen nicht mehr als 50 Prozent der Stimmen gewinnen.
Armenien befindet sich in einer komplexen Ausgangsposition: Mit seiner vormaligen »Schutzmacht« Russland sind die Beziehungen nachhaltig zerrüttet, seit die Regierung in Moskau beim jüngsten Angriff Aserbaidschans ihre Beistandspflichten ignorierte, die sich aus der Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit (Verteidigungsbündnis bestehend aus mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken) ergeben. Den Verrat des Kreml haben die meisten Armenierinnen und Armenier nicht vergessen, sie befürworten mehrheitlich, dass das Land Beitrittskandidat der EU werden solle; das hat im Februar eine Parlamentsmehrheit beschlossen.
Allerdings dürfte es extrem schwierig sein, die Verbindungen zum übermächtigen Russland komplett zu kappen: Die armenische Diaspora in Russland ist groß und ökonomisch bedeutsam für den kleinen Kaukasus-Staat, die russische Armee ist weiter im Land präsent. Zudem ist Armenien weiterhin Mitglied in Russlands Eurasischer Wirtschaftsunion. Obwohl dies mit einem EU-Beitritt inkompatibel ist, verkündeten mehrere Minister aus Paschinjans Kabinett paradoxerweise, es gebe keine Pläne, die russische Freihandelszone zu verlassen.
Die Grenzen Armeniens werden nicht respektiert
Das autoritäre aserbaidschanische Regime sendet trotz der auf dem Papier gemachten Fortschritte beim Friedensabkommen vor allem eine Botschaft: Die Grenzen Armeniens werden nicht respektiert, das Nachbarland bleibt ein Feind. Im Januar nannte Ilham Alijew Armenien einen »faschistischen Staat«. Wenige Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens beschuldigte Aserbaidschan Armenien nach Schießereien an der Grenze, den Waffenstillstand gebrochen zu haben.
Alijews wichtigstes Projekt und einer der größten Streitpunkte in den Verhandlungen ist der sogenannte Sangesur-Korridor. Um seine Brisanz für zu verstehen, ist ein Blick auf die Landkarte notwendig. Die südarmenische Provinz Sjunik ist eine schmale Landzunge, die zum Iran führt. Im Osten grenzt sie ans aserbaidschanische Kernland und das verlorene Bergkarabach, im Westen an Aserbaidschans Exklave Nachitschewan. Nachitschewan wiederum stellt Aserbaidschans einzige Grenze zur kulturell und sprachlich verwandten Türkei dar. In der panturanistischen Ideologie, die sowohl in der Türkei als auch in Aserbaidschan ihre Anhängerschaft findet, gilt das armenische Kernland und damit die Provinz Sjunik als Störfaktor, der die »Brudervölker« künstlich voneinander trennt.
Am 5. März gastierte Ilham Alijew in Ankara bei der Eröffnung der neuen Gaspipeline zwischen dem türkischen Iğdır und Nachitschewan. Dort wiederholte er einen talking point, der sich in vielen seiner präsidialen Reden und Äußerungen seit seinem Amtsantritt 2003 wiederfindet: Sjunik (in Aserbaidschan Westsangesur genannt) sei 1920 auf ungerechte Weise von der Sowjetführung Armenien zugeschlagen worden, um Aserbaidschan zu spalten. Aus dieser Sicht müsse Sjunik Aserbaidschan zugeschlagen werden, um die Anbindung an Nachitschewan herzustellen. Und obwohl Alijew von Armenien die Änderung der Verfassung verlangt, weil darin Bergkarabach erwähnt wird, finden sich in der Verfassung seines eigenen Staats Passagen, die einen territorialen Anspruch auf Westsangesur begründen.
Die geplante Einrichtung des Sangesur-Korridors als permanente Verbindungsstraße zur Exklave wirft in Armenien viele Fragen auf: Wer soll diese Passstraße militärisch überwachen? Könnte die Einrichtung der Trasse das armenische Gebiet zerschneiden? Welche Seite soll sie instand halten?
Die geplante Einrichtung des Sangesur-Korridors als permanente Verbindungsstraße zur Exklave wirft in Armenien viele Fragen auf: Wer soll diese Passstraße militärisch überwachen? Könnte die Einrichtung der Trasse das armenische Gebiet zerschneiden? Welche Seite soll sie instand halten? Und: Ist die Einrichtung gar nur der erste Schritt für einen weiteren militärischen Konflikt und für eine Annexion Sjuniks? Schon 2021 drohte Alijew in einem Interview mit dem aserbaidschanischen Staatsfernsehen, er werde den Sangesur-Korridor notfalls »mit Gewalt durchsetzen«. Während Paschinjan als Bedingung für den Waffenstillstand schon 2020 der Einrichtung von regionalen Verbindungswegen zustimmte, ist die genaue Implementierung seitdem ungeklärt.
Die regionalen Großmächte verhalten sich zur Frage der neuen Transportroute unterschiedlich: Während die Türkei und Russland Unterstützung zusicherten, stellt sich die Islamische Republik Iran, deren Beziehung zu Aserbaidschan angespannt sind, in diesem Konflikt auf die Seite seines christlichen Nachbarlands. »Wir haben unseren Standpunkt gegenüber Russland und anderen Ländern klar ausgedrückt«, sagte der iranische Botschafter in Armenien, Mehdi Sobhani, am 6. Februar bei einer Pressekonferenz in Eriwan. »Wir sind gegen eine Trasse unter internationaler Kontrolle, wie auch gegen jegliche Initiative, die existierende Grenzen zu verändern sucht und geopolitische Verschiebungen fördert.« Die Furcht vor dem Verlust der territorialen Anbindung an Armenien demonstriert unfreiwillig die Grenzen der iranisch-russischen Allianz.