24.04.2025
Im Gaza-Streifen protestieren wieder Tausende Menschen gegen den Krieg und gegen die Hamas

Gegen Krieg und Hamas

Zum wiederholten Mal gehen im Gaza-Streifen Tausende auf die Straße, die lieber leben wollen, als sich für die Hamas zu opfern.

Eine Handvoll vermummter Männer mischt sich unter eine Menge und hält Plakate hoch, auf denen »Ganz Gaza ist der Widerstand« geschrieben steht. Später landen Videos davon auf Propagandakanälen der Hamas und finden in vielen arabischen Medien Verbreitung.

Was dort nicht zu sehen ist: Unmittelbar nachdem die umstehenden Demonstranten auf die Plakate aufmerksam werden, werden die Männer wütend aufgefordert, sich zu entfernen. Ereignet hat sich diese Szene am 16. April in Beit Lahia, einer Stadt im Norden des Gaza-Streifens.

Dort protestierten am Abend wieder Tausende Bewohner des Gaza-Streifens – zum dritten Mal, seit am 25. März weitgehend spontane Proteste ebenfalls von Beit Lahia ausgehend in verschiedenen Orten im ganzen Küstenstreifen stattfanden. Wie viele sich an den Protesten beteiligten, ist schwer zu sagen, die meisten gehen von ein paar Tausend aus, dem Analysten Sascha Bruchmann vom International Institute for Strategic Studies zufolge könnten es bei den Protesten von vor vier Wochen aber auch 10.000 Demonstranten gewesen sein.

Nachdem die Hamas und ihr nahe­stehende Medien wie al-Jazeera die Proteste zunächst ignorierten, versuchen sie mittlerweile, sie für sich zu vereinnahmen.

Unüberhörbar aber sind die Parolen, die gerufen werden: »Raus, raus, raus, Hamas, raus, raus!« Oder: »Wir weigern uns zu sterben!« Auch »Nein zum Krieg, nein zum Terror, ja zum Frieden« und »Wir wollen leben« wird skandiert. Neben weißen Flaggen sind vereinzelt ägyptische Flaggen zu erkennen – offenbar ein Ausdruck der Zustimmung zu dem von Ägypten vorgelegten Plan für eine Nachkriegsordnung im Gaza-Streifen, der eine Entwaffnung der Hamas vorsieht. Einige der Demonstranten kritisieren die Hamas auch dafür, die israelischen Geiseln nicht freizulassen, was Israel seit Beginn neben der Entwaffnung der Hamas zur Grundbedingung für ein Ende des Krieges erklärt hat.

Trotz der sich gegen die Hamas richtenden Parolen bei den Protesten ist das maßgebliche Motto »Wir wollen leben«. Hauptsachte der Krieg werde gestoppt, zitiert die Washington Post einen Bewohner Beit Lahias. Stammesälteste der Stadt veröffentlichten zwei Erklärungen, in denen sie den Protestierenden ihre Unterstützung zusicherten, bei den Protesten sieht man die Stammesältesten häufig.

Nachdem die Hamas und ihr nahestehende Medien wie al-Jazeera die Proteste zunächst ignorierten, versuchen sie mittlerweile, sie für sich zu vereinnahmen. Der Hamas-Vertreter Basem Naim erklärte: »Es ist zu erwarten, dass Menschen, die vor der Vernichtung stehen, gegen Krieg und Zerstörung demonstrieren.«

»Nein, nein zu al-Jazeera!«

Pro-Hamas-Kanäle veröffentlichten daraufhin ein angebliches Statement von Stammesältesten der Stadt, das die Proteste als Sympathiebekundung für die Hamas umdeutete und dabei Beit Lahia als »endlosen Vorrat« an Kämpfern bezeichnete. Die meisten westlichen Medien verbreiteten dieses Statement und nicht die ursprünglichen Statements.

Diese heuchlerische Strategie funktioniert aber immer weniger. Viele der Demonstrierenden sind besonders schlecht auf al-Jazeera zu sprechen, sie kritisieren, dass über sie nicht berichtet wird. Bei den Protesten waren Slogans zu hören wie: »Nein, nein zu al-Jazeera! Die Menschen sind die Wahrheit.«

Die Hamas versucht, mit Hilfe von Medien wie al-Jazeera ihre verbleibende Macht zu retten. Dafür inszeniert sich die Terrororganisation als Schutzinstanz der Bewohner des Gaza-Streifens, obwohl sie sich in der zivilen In­frastruktur verschanzt und Hilfslieferungen für die Bevölkerung mittlerweile als Haupteinnahmequelle für die Kriegsfinanzierung missbraucht, indem sie diese Lieferungen mit hohen Steuern belegt oder konfisziert, um sie sodann auf dem Schwarzmarkt zu überhöhten Preisen zu verkaufen.

Ernsthafte Herausforderung der Hamas-Herrschaft

Weil die Hamas aufgrund des andauernden Kriegs mittlerweile stark geschwächt ist, kann sie gegen die Protestierenden nicht direkt vorgehen. Dass sie die Proteste aber als eine ernsthafte Herausforderung ihrer Herrschaft betrachten, beweist ihr brutales Vorgehen gegen Uday Rabie. Der 22jährige hatte an den Protesten Ende März teilgenommen. Männer des bewaffneten Arms der Hamas, der al-Qassam-Brigaden, folterten Rabie wegen seiner Teilnahme an den Protesten so schwer, dass er starb. Die Täter drohten der Familie, dass sein Schicksal alle treffen würde, die den al-Qassam-Brigaden keinen Respekt erweisen. Der Anti-Hamas-Aktivist Abu Hamam Jundiye erhielt Morddrohungen derselben Gruppe, wie viele andere auch, manche wurden inhaftiert oder verschwanden.

Auch wer sich gegen die Praxis der Hamas richtet, zivile Einrichtungen als Rückzugsorte zu nutzen, muss mit Gewalt rechnen. So bedrohte die Terrororganisation Islamischer Jihad Mohammed Saker, den Leiter der Pflegeabteilung im Nasser-Krankenhaus in Khan Younis, weil er darauf bestand, dass nur Patienten das Krankenhaus betreten. Ein Mann namens Zakaria al-Jamasi, der die Hamas daran hindern wollte, sich in einer Schule in Gaza-Stadt zu verschanzen, wurde in den vergangenen Tagen von Bewaffneten aus dem Umfeld der Hamas getötet.

Unterstützung erhielt die Hamas hingegen unlängst von der Internationalen Union Muslimischer Gelehrter, einer von der islamistischen Muslimbruderschaft dominierten Organisation, die unter anderem eng mit Katar und der türkischen Religionsbehörde Diyanet zusammenarbeitet. Sie hat Ende März ein religiöses Gutachten, eine Fatwa, erlassen, die den »heiligen Krieg« gegen Israel zur religiösen Pflicht jedes Muslims und aller muslimischer Staaten erklärt.