24.04.2025
Roberto Cenati, ehemaliger Vorsitzender der ANPI in Mailand, im Gespräch über Antisemitismus und Gedenken

»Die Beteiligung von Juden an der Resistenza war beträchtlich«

Der Verband der italienischen Partisanen, der das Gedenken an die Resistenza organisiert, wirft Israel einen Genozid an den Palästinensern vor. Die »Jungle World« sprach mit Roberto Cenati, dem ehemaligen Vorsitzenden des ANPI-Regionalverbands in Mailand, über seinen Rücktritt und die Notwendigkeit eines antifaschistischen Gedenkens, das sich gegen Antisemitismus wendet.

Sie sind im Frühjahr 2024 als Präsident der ANPI Mailand zurückgetreten. Was hat Sie dazu bewegt?
Ich habe nach 13 Jahren als Präsident der ANPI Mailand schweren Herzens meinen Rücktritt eingereicht, weil ich mit der Linie des ANPI-Nationalverbands – zu der unter anderem das Motto »den Genozid in Gaza verhindern« gehört – nicht einverstanden war. Der Begriff »Genozid« sollte nicht leichtfertig verwendet werden. Er wurde von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt, der den Nationalsozialisten entkam. Am 9. Dezember 1948 hat die Uno Lemkins Genozid-Definition übernommen. Genozid meint demnach »die systematische Tötung – ganz oder teilweise – von Mitgliedern einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe«, verbunden mit »Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe, sowie die gewaltsame Überführung von Minderjährigen«.
Ich bin trotz der dramatischen humanitären Lage im Gaza-Streifen nicht der Auffassung, dass diese Bedingungen erfüllt werden. Die Verwendung des Begriffs Genozid in diesem Zusammenhang ist keineswegs bloß eine rhetorische Ungenauigkeit. Wer den Begriff in Zusammenhang mit Israels Handeln setzt, ebnet den Weg dafür, dass man die Shoah – als das schreckliche Paradebeispiel eines Genozids – relativiert. Diese Situationen zu vergleichen, kommt einer Täter-Opfer-Umkehr gleich und fördert den ohnehin grassierenden Antisemitismus in Italien.

Wie steht es um den Antisemitismus in Italien?
Er ist in alarmierendem Maße angestiegen. Allein die Tatsache, dass die Senatorin Liliana Segre, eine Shoah-Überlebende, seit 2019 aufgrund wiederholter antisemitischer Beleidigungen und ständiger Morddrohungen mit Personenschutz leben muss, verdeutlicht das. Man hatte sich eingebildet, dass nach der Shoah alles überwunden sei – doch dem ist nicht so. Der Antisemitismus zieht sich inzwischen quer durch die politischen Lager – man findet ihn in Italien in Organisationen der extremen Rechten ebenso wie in den meisten selbstverwalteten linken Zentren. Erst kürzlich forderte der ehemalige Ministerpräsident Giuseppe Conte (seit 2021 bei der populistischen Partei Fünf-Sterne-Bewegung; Anm. d. Red.) italienische Juden dazu auf, sich vom Staat Israel zu distanzieren. Das ist inakzeptabel und zeugt von Unverständnis für das empathische Verhältnis, das Juden zu Israel haben, einem Staat, der seit seiner Gründung am 14. Mai 1948 nie Frieden erlebt hat und seit 77 Jahren um sein Überleben kämpft.

Die Associazione Nazionale Partigiani d’Italia (ANPI) wurde 1944 von Mitgliedern der Resistenza gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung gegründet. Heute ist die ANPI ein landesweit aktiver antifaschistischer Verband mit über 130.000 Mitgliedern. Sie tritt für die Würdigung des historischen Andenkens an den Widerstand und die Verteidigung der italienischen Verfassung ein.

Hass auf Israel ist in der italienischen Öffentlichkeit also unvermindert präsent?
Allein in Mailand wird nach wie vor jeden Samstag auf Demonstrationen ein »freies Palästina vom Fluss bis zum Meer« gefordert. Der Aufruf impliziert die Zerstörung Israels, des einzigen demokratischen Staats im Nahen Osten, in dem fast zwei Millionen arabisch-israelische Bürger leben – die in der Knesset durch zwei Parteien vertreten sind. Das Ziel Israels ist es, die Hamas zu bekämpfen, deren Statut vorsieht, dass der Staat Israel zerstört und das jüdische Volk vernichtet wird.
Es schmerzt mich, dass die Propaganda der Hamas in beachtlichen Teilen der Öffentlichkeit Erfolg hat. Ein feindseliges Klima hat sich auch an den italienischen Universitäten ausgebreitet, in denen es nicht möglich ist, friedliche Diskussionen über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu führen. Trotz zahlreicher Initiativen, die jedes Jahr im Rahmen von Gedenktagen an die Opfer der Shoah stattfinden, scheint es an politischer und historischer Bildung an vielen Stelle zu mangeln.

Dazu würde rund um den 25. April auch ein Erinnern an den jüdischen Widerstand gehören. Wird das Engagement jüdischer Partisanen und Überlebender angemessen gewürdigt?
Die Widerstandsbewegung, mit dem entscheidenden Beitrag der Alliierten, hat alle befreit – unabhängig von Überzeugungen oder politischer Gesinnung. Aus diesem Grund ist der 25. April ein Tag des Feierns und der Einheit aller Italiener, die an den Antifaschismus und die Prinzipien der republikanischen Verfassung glauben. Die Beteiligung der jüdischen Gemeinschaft an der italienischen Resistenza war beträchtlich. Über 1.000 Juden haben aktiv an der Resistenza mitgewirkt – eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass es 1943 in Italien rund 41.000 Juden gab. Einige waren in Führungspositionen vertreten, wie Leo Valiani, Emilio Sereni, Giulio Bolaffi, Eugenio Colorni, Umberto Terracini – der Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung war; Emanuele Artom und Leone Ginzburg wurden in den SS-Gefängnissen gefoltert und ermordet.

Eine besondere Rolle spielte auch die Brigata Ebraica, die als Einheit jüdischer Freiwilliger in der British Army an der Befreiung Italiens beteiligt war. Wie wird ihrer gedacht?
Die Brigata Ebraica ist im Zusammenhang der Befreiung besonders hervorzuheben. Italiens Parlament hat sie mit der die Goldmedaille für militärische Tapferkeit ausgezeichnet. Die Brigata Ebraica war an entscheidenden Gefechten wie dem ersten Durchbruch der sogenannten Gotenstellung (Verteidigungslinie der deutschen Wehrmacht quer durch Mittelitalien; Anm. d. Red.) beteiligt. Allein dort verlor sie 50 ihrer Kämpfer und ermöglichte die Befreiung zahlreiche Orte Zentralitaliens. Diese mutigen Kämpfer – deren Geschichte bis heute zu wenig bekannt ist – trugen wesentlich dazu bei, Italien vom Nazi-Faschismus zu befreien.
Die Teilnahme der jüdischen Gemeinschaft Mailands, der Union der jüdischen Gemeinden Italiens (UCEI) und der Brigata Ebraica an der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung ist also zentral für das Erinnern. Nichtsdestoweniger wurden die Überlebenden der Brigata Ebraica bei den nationalen Feierlichkeiten des 25. April, die jährlich in Mailand stattfinden, von sogenannten propalästinensischen Gruppen antisemitisch beleidigt und körperlich angegriffen.

»Über 1 .000 Juden haben aktiv an der Resistenza mitgewirkt – eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass es 1943 in Italien rund 41.000 Juden gab.«

Die ANPI wurde von Partisanen gegründet und hatte zum Ziel, das Andenken an den Widerstand zu würdigen. Es gibt immer weniger lebende Zeitzeugen. Wie verändert sich die Arbeit der Organisation durch den Generationswechsel?
Die ANPI bemühte sich von Beginn an, das Gedenken, das historische Wissen und das Erbe des antifaschistischen Widerstands lebendig zu halten. Eine Arbeit, die wichtig ist, um antisemitischen und nationalistischen Tendenzen sowie dem Aufleben neofaschistischer Bewegungen entgegenzuwirken. So haben es die Partisanen, die uns leider allmählich verlassen, auch in ihrem Gründungsstatut festgelegt.
Ich bin davon überzeugt, dass die ANPI weiter in diese Richtung gehen muss, dabei aber ihre Unabhängigkeit von politischen Parteien und Gewerkschaften wahren sollte und sich nicht in tagespolitischen Fragen verlieren darf. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie sich in eine linke Splitterpartei verwandelt. Dennoch sollte sich die ANPI mit wichtigen politischen Fragen beschäftigen, die die Grundlagen unserer republikanischen Demokratie betreffen. Dazu zählt etwa der Schutz der Verfassung.

Die italienische Verfassung ist selbst ein Vermächtnis der Resistenza. Die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni plant, sie weitgehend zu revidieren. Greift sie damit das antifaschistische Erbe der Republik an?
Seit dem Amtsantritt der Regierung Meloni ist der Versuch zu beobachten, die Geschichte umzudeuten. Aber die Nationalsozialisten, die durch italienische Straßen zogen, waren keine Pensionäre, wie Senatspräsident Ignazio La Russa (Fratelli d’Italia) im Zusammenhang mit dem antifaschistischen Attentat in der Via Rasella meinte, als er behauptete, die Partisanen hätten halb pensionierte Musiker getötet. Der Bombenanschlag der römischen Resistenza im März 1944 galt der 11. Kompanie des III. Bataillons des SS-Polizeiregiments »Bozen«, das aus deutschsprachigen Südtirolern bestand. Diese Leute waren mit der Unterstützung der Faschisten in der sogenannten Republik von Salò verantwortlich für Massenerschießungen und Massaker an Zivilisten, Deportationen von Juden, politischen Gegnern, Arbeitern und italienischen Soldaten in Konzentrationslager.

Giorgia Meloni und ihr politisches Umfeld schaffen es also nicht, sich von ihren politischen Ursprüngen zu lösen?
Meloni gelingt es nicht, den Faschismus unmissverständlich und im Ganzen zu verurteilen. Das jüngste Beispiel ist ihr öffentlicher Angriff auf das Manifest von Ventotene, das 1941 von den drei auf die gleichnamige Insel verbannten Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni verfasst wurde und als wegweisendes Dokument für die europäische Integration gilt. Im italienischen Parlament sagte Meloni: »Ich weiß nicht, ob das Ihr Europa ist, aber es ist sicher nicht meines.« Damit offenbarte sie die souveränistischen und nationalistischen Tendenzen dieser Regierung.
Es gilt aber, insbesondere die repu­blikanische Verfassung als das wertvollste Erbe der italienischen Resistenza gegen die Regierung Meloni zu verteidigen. Die geplante Revision sieht unter anderem die direkte Wahl des Ministerpräsidenten vor. Damit würde das Gleichgewicht der Staatsgewalten zugunsten der Exekutive verschoben. Die Idee eines starken Anführers ist Erbe des Faschismus und taucht in Italien immer in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Krisen auf. Der Weg, um den antifaschistischen Charakter der Republik zu bewahren, führt über den Schutz der republikanischen Verfassung, die aus der Resistenza hervorgegangen ist.

Wie geht es für Sie nun persönlich weiter?
Mit dem Rücktritt von meinem Amt ist mein Engagement in der ANPI nicht beendet, vor allem nicht die Aufklärungsarbeit an den Schulen. Ich bin überzeugt, dass es wichtig bleibt, den Jugendlichen die Werte des Antifaschismus, der Solidarität, der Toleranz und der Freiheit zu vermitteln, wie sie in der republikanischen Verfassung verankert sind.

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Roberto Cenati

Roberto Cenati ist 1952 geboren und studierte Politikwissenschaft an der Universität Mailand. 2011 wurde er erstmals zum Vorsitzenden der ANPI Mailand gewählt. Bis zu seinem Rücktritt war er der erste Präsident der ANPI Mailand ohne eigene Widerstandserfahrung und steht damit für eine neue Generation des organisierten Antifaschismus, die den historischen Auftrag der Resistenza in die Gegenwart übersetzen möchte.

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privat