Vanessa wird nie krank
Die Vertreter der Terminbuchungssoftware sind smarte junge Leute, die wissen, wie sie ihre kleinunternehmerische Klientel an den Haken bekommen. Mit einer Mischung aus Fürsorge und Herablassung präsentieren sie dem Hausarzt ihr Produkt, von dem wirklich alle, der Hausarzt ganz besonders, profitieren. Wie viel Gutes man damit bewirken kann! Die Patienten kommen schneller an Termine, die Medizinischen Fachangestellten (MFA) werden nicht von dauernd klingelnden Telefonen terrorisiert, und wenn man Termine absagen muss, zum Beispiel weil der Hausarzt einmal krank wird, geht das ganz leicht mit einem Klick.
Und das allerbeste, so die smarten jungen Leute: Die Software namens »Vanessa« (Name geändert) funktioniert – im Gegensatz zum menschlichen Personal – immer, muss nicht für Pausen bezahlt werden, nörgelt auch nicht herum, gründet keine Betriebsräte und fordert keine Gehaltserhöhungen. Auf den ersten Blick macht die Software alles einfacher. Der Patient klickt ein wenig im Netz herum, gibt seine Daten ein und bekommt – natürlich abhängig vom Versicherungsstatus – mehr oder weniger schnell einen Termin bei dem Arzt seiner Wahl.
Der Kapitalismus führt zu hohen Lebenshaltungskosten, schlecht bezahlte MFA verlassen wegen der hohen Mieten die Stadt oder den Beruf, die verbleibenden leiden unter hoher Arbeitsverdichtung, werden krank und Praxen müssen wegen Personalmangels schließen.
Der Hausarzt jedoch sieht die Zusammenhänge glasklar. Der Kapitalismus führt zu hohen Lebenshaltungskosten, schlecht bezahlte MFA verlassen wegen der hohen Mieten die Stadt oder den Beruf, die verbleibenden leiden unter hoher Arbeitsverdichtung, werden krank und Praxen müssen wegen Personalmangels schließen. Das ist die große Stunde der Software-Entwickler, die schlicht Effizienz verkaufen und die mit den Terminbuchungen einhergehende Arbeit an die Patienten auslagern.
Die müssen sich dann selbst überlegen, wo, wann, wie und warum sie in die Praxis kommen, und können nicht wie früher mit erfahrenen MFA am Empfang die Dringlichkeit ihrer Vorstellung abklären. Viele Termine erwiesen sich nach einem kurzen Gespräch als gar nicht notwendig oder konnten mit ausreichend Planung stattfinden. Mittlerweile werden Arztbesuche immer häufiger, immer ungeplanter und dafür immer kürzer. Ein Hamsterrad, in dem Arzt und Patienten gleichermaßen festhängen.
Nach Erfahrungen des Hausarztes und seiner Kollegen nahm der Anteil an im Wesentlichen jungen und gesunden, aber sehr besorgten und ängstlichen Menschen zu, während der der Alten, chronisch Kranken, Menschen mit Handicap, Armen und die deutsche Sprache nicht perfekt Beherrschenden abnahm. Der Hausarzt behandelt mehr Menschen, die nicht krank sind, führt manchmal unnötige Vorsorgeuntersuchungen durch und berät junge und gesunde Angehörige der Mittelschicht, die alles schon aus dem Internet wissen. Da wegen des Personalmangels und der Umstellung auf elektronische Terminbuchung auch die Telefone abgeschaltet sind, kommen gerade alte und immobile Menschen noch schwerer an Termine als vor der Einführung von »Vanessa«.
Noch ungenierter unerwünschte Patienten abweisen
Doch es eröffnen sich neue Möglichkeiten. Arztpraxen können jetzt noch ungenierter unerwünschte Patienten abweisen und solche bevorzugen, mit denen sich mehr Geld machen lässt. Die Software kann beliebig angepasst werden: gewinnträchtige Untersuchungen am Fließband, für andere gibt es dann keine Termine mehr. Privatpatienten morgen, Kassenpatienten in sechs Monaten. Weitere Ausgrenzungen sind zwar strafbar, aber theoretisch möglich: zum Beispiel nach Name, Alter und Wohnort.
Aber der Hausarzt muss sehen, wo er bleibt. Will er bald alleine in einer staubigen Praxis sitzen, wenn auch der letzte analoge Patient das Zeitliche gesegnet hat? Was ist mit den jungen digital natives, die sich um ihre Performance sorgen? Auch die werden irgendwann alt und richtig krank und haben dann nicht nur Vitaminmangel und Daumenentzündungen vom Swipen.
Blickt der Hausarzt auf seine jungen Patienten, ja wagt er sich gar an eine utopische Phantasie, so ist er enthusiastisch wie selten! Der Fortschritt nimmt ihn mit in eine goldene Zukunft ohne Arbeit und Krankheit, denn bald wird auch er durch digitale Intelligenz ersetzt. Die entsprechenden Programme gibt es schon – sie funktionieren viel besser als er, wissen alles und sind nie krank und verplempern keine Zeit mit Kritik. Zum Schluss bleiben noch die analogen und immer viel zu teuren Patienten. Aber für die findet sich auch noch eine Lösung.