Der Druck steigt
Von Aufbruchstimmung war wenig zu spüren, als die Verhandlungsführer:innen von Union und SPD Anfang April vor die Presse traten, um ihre Koalitionsvereinbarung vorzustellen. Eher war ihnen Erleichterung anzumerken, dass es überhaupt geklappt hatte: Allzu lange Beratungen hatte man angesichts der sich zuspitzenden internationalen Handelskonflikte wohl unbedingt vermeiden wollen.
Zufrieden mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen können insbesondere die Kapitalverbände sein. Der ökonomischen Stagnation möchte die schwarz-rote Bundesregierung in spe nämlich vor allem mit einem altbewährten Mittel begegnen: der Demontage von Arbeitnehmer:innenrechten und sozialen Sicherungssystemen.
Die künftige Bundesregierung hat sich vor allem das Ziel gesetzt, die Zugriffsmöglichkeiten des Kapitals auf die Ware Arbeitskraft zu erweitern.
Gerade die Gewerkschaften werden unter Druck gesetzt. Die von der Union geforderte Einschränkung des Streikrechts hat es zwar nicht in den Koalitionsvertrag geschafft, allerdings soll das Arbeitszeitgesetz ausgehöhlt und die tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von maximal 48 Stunden ersetzt werden. Das bedeutet – wenn man die Vorschriften für Ruhezeiten berücksichtigt –, dass zukünftig eine Tagesarbeitszeit von zwölf Stunden und 15 Minuten erlaubt ist.
Mit dem Achtstundentag nimmt sich die schwarz-rote Koalition die wohl größte Errungenschaft der Gewerkschaftsbewegung vor. Jahrzehntelang hatte der Kampf für den Achtstundentag weltweit die Arbeiter:innenbewegung bewegt: Von Melbourne über Chicago bis Berlin streikten und protestierten einst immer wieder Hunderttausende für die Begrenzung des Arbeitstags. Auch das Datum des 1. Mai, des wichtigste Gedenk- und Feiertags der Gewerkschaftsbewegung, geht auf die Auseinandersetzung um den Achtstundentag zurück.
Erst mit der Novemberrevolution 1918 wurde in Deutschland schließlich Realität, wofür so lange gestritten worden war: der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich für alle Arbeiter:innen.
Abschaffung der Tageshöchstarbeitszeit
Von den Nationalsozialisten zu Kriegsbeginn beseitigt, wurde er 1945 von der Alliierten Kontrollkommission wieder in Kraft gesetzt und gilt seitdem als Symbol für den Erfolg der Gewerkschaftsbewegung und die Integration der Arbeiter:innenschaft in den bürgerlichen Staat. Die Abschaffung der Tageshöchstarbeitszeit rüttelt an den Grundfesten der Arbeitsbeziehungen im Nachkriegsdeutschland und am gewerkschaftlichen Selbstverständnis. Jetzt, da die Debatte über die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes erst einmal eröffnet ist, könnte noch mehr zur Disposition stehen. Kapitalvertreter drängen zum Beispiel darauf, die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit von mindestens elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen zu schleifen.
Eine weitere Aushöhlung von Arbeiterrechten sieht der Koalitionsvertrag unter dem Schlagwort »Bürokratieabbau« vor. So sollen »Verpflichtungen zur Bestellung von Betriebsbeauftragten« abgeschafft werden. Solche Beauftragen sind dafür zuständig, die Einhaltung von Arbeits- und Umweltschutzregeln zu überwachen.
Fallen soll außerdem das Lieferkettengesetz, für das sich die Gewerkschaften jahrelang eingesetzt hatten. Es verpflichtet Unternehmen zur Einhaltung und Prüfung menschenrechtlicher Mindeststandards in der gesamten Produktionskette – aus Sicht der nächsten Bundesregierung offenbar ein nicht hinnehmbarer Eingriff in die unternehmerische Freiheit. Stattdessen soll eine Neuregelung auf die Vorgaben des – laxeren – EU-Gesetzes zurechtgestutzt werden. Die Abschaffung des deutschen Lieferkettengesetzes hatte der nun scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) allerdings schon im vergangenen Jahr angekündigt.
Betroffene als Bittsteller
Ebenso verschwinden soll das Bürgergeld, das Anfang 2023 von der SPD-geführten Bundesregierung eingeführt worden war, um das Hartz-IV-System zu ersetzen. Diese sozialdemokratische Neustrukturierung der Armutsverwaltung war der Union von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen.
Der damalige Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nannte das Bürgergeld »die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren« – in der Praxis unterschied es sich durch kaum mehr als den Namen vom einstigen Hartz IV. Es gab zwar einige Lockerungen im Sanktionsregime, doch wurden diese bereits Ende vergangenen Jahres weitgehend zurückgenommen.
Der Union ging jedoch bereits die Aufwertung von Leistungsempfängern zu »Bürgern« zu weit. Die nun geplante Neubezeichnung als »Grundsicherung« und eine weitere Verschärfung der Sanktionen soll den Betroffenen ihre Rolle als Bittsteller deutlich vor Augen führen.
Selbst die Anhebung des Mindestlohns steht in den Sternen
Im Koalitionsvertrag finden sich auch langjährige gewerkschaftliche Forderungen, zum Beispiel dass Betriebsratssitzungen und Betriebsversammlungen auch online stattfinden können. Oder ein Bundestariftreuegesetz, das die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung tariflicher Regelungen knüpft. Allerdings hatte Letzteres bereits die Ampelkoalition angekündigt, ohne dass es jemals verwirklicht wurde.
Selbst die Verwirklichung des zentralen Wahlversprechens der SPD, die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, steht in den Sternen. Der Koalitionsvertrag benennt einen Mindestlohn von 15 Euro zwar als Ziel, in die Autonomie der von Gewerkschaften und Arbeitgebern paritätisch besetzten Mindestlohnkommission will man jedoch nicht eingreifen. Zwar sagte der SPD-Generalsekretär Matthias Miersch im Podcast des Online-Nachrichtenanbieters Table Briefings vergangene Woche, falls die Kommission sich nicht für 15 Euro entscheiden werde, könne man auch »gesetzgeberisch tätig werden« – doch dabei müsste die Union mitmachen, womit kaum zu rechnen ist.
Das Problem an der Kommission ist, dass die Gewerkschaften dort keine Druckmittel haben – für die Unternehmen ist es schließlich kein Problem, wenn keine Einigung über eine Erhöhung erzielt wird. Als sich die Gewerkschaften im Jahr 2023 weigerten, einer zu geringen Erhöhung zuzustimmen, haben die Unternehmen sie einfach überstimmt – mit Hilfe der Stimme der de jure unabhängigen Kommissionsvorsitzenden. Schon jetzt machen Unternehmen und Branchenverbände gegen einen Mindestlohn von 15 Euro Stimmung. Es steht also zu erwarten, dass sie auch diesmal eine signifikante Erhöhung werden blockieren können.
Die künftige Bundesregierung hat sich vor allem das Ziel gesetzt, die Zugriffsmöglichkeiten des Kapitals auf die Ware Arbeitskraft zu erweitern.
Die künftige Bundesregierung hat sich vor allem das Ziel gesetzt, die Zugriffsmöglichkeiten des Kapitals auf die Ware Arbeitskraft zu erweitern. Diesen Zweck haben all die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag vereinbart sind: die Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes, die steuerliche Begünstigung von Überstunden, die als »Aktivrente« bezeichneten deutlich höheren Steuerfreibeträge für Erwerbsarbeit im Ruhestand und auch die verstärkte Gängelung Erwerbsloser, die den Druck auf die Lohnabhängigen weiter erhöhen wird, jede Arbeit anzunehmen.
Die Gewerkschaften haben dem derzeit nur wenig entgegenzusetzen. Seit Jahren sinkt die Tarifbindung kontinuierlich und mit ihr die betriebliche und tarifliche Durchsetzungsfähigkeit. Bei den jüngsten Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst konnten die Gewerkschaften ihre Forderung nach mehr Freizeit nicht durchsetzen und mussten stattdessen hinnehmen, dass Beschäftigte künftig auf freiwilliger Basis 42 Stunden pro Woche arbeiten können. Ähnliches ist bei anderen Tarifvereinbarungen zu befürchten.