01.05.2025
Vor 100 Jahren wurde die Kleinbildfotografie erstmals vorgestellt und revolutionierte das Medium

Die Fotorevolution

Vor 100 Jahren kam die erste Kamera auf den Markt, die mit einem Kleinbildfilm betrieben wurde. Es folgte die Demokratisierung des Mediums, was zur Explosion der Kunst-, der Dokumentar- und nicht zuletzt der Amateurfotografie führte.

Das Klicken des Kameraauslösers ging immer schon mit einem Versprechen einher. Im Idealfall gelingt es dem Fotografen oder der Fotografin, das Wesentliche eines Moments einzufangen – ob nun mit der Smartphone-Kamera oder mit einem professionellen Apparat. Die derart gebannten Momente führen fortan ein Eigenleben, das zum Schauen und zur Interpretation einlädt, ob im realen Archiv und Album oder in der Cloud und in sozialen Medien.

Die Unzahl der uns heute umgebenden Bilder wäre nicht denkbar ohne die Erfindung, die der deutsche Feinmechaniker Oskar Barnack vor 100 Jahren machte. Sie revolutionierte die Art und Weise, wie Fotos hergestellt und auch betrachtet wurden. Auf Barnack geht nämlich die erste serienmäßige Kleinbildkamera zurück – die Leica I von 1925.

Mit dem Kleinbild gelangten Bewegung und Mobilität in die Fotografie. Das wirkte sich besonders auf die Ästhetik der Bilder aus.

In Privatarbeit entwickelte der Naturfotografie-Enthusiast, der unter Asthma litt und nur mit Mühe die damals benötigten schweren und sperrigen Plattenkameras transportieren konnte, in den Jahren 1913/14 eine kompakte Minikamera, mit der sich auf kleine Rollen gezogener 35-Millimeter-Film belichten ließ. Der Erste Weltkrieg verzögerte eine industrielle Weiterentwicklung seiner Kamera, aber ab dem Jahr 1924 konnte seine Erfindung in Serie gefertigt werden, im dar­auffolgenden Jahr brachte die in Wetzlar ansässige Firma Leitz schließlich erste Leica (kurz für Leitz-Camera) auf den Markt.

Aus dem Modell Barnacks war ein Prototyp raffinierten Industrie-Designs geworden, dessen unnachahmliche Form auch heute noch – 100 Jahre nach Ersteinführung – in modernen Leica-Kameras fortlebt. Die Wirkung von Barnacks Entwicklung weist weit über das Unternehmen hinaus, aus dem 1986 die heutige Leica Camera AG hervorging. Die Einführung der Kleinbildkamera, die bald schon von anderen Herstellern kopiert wurde, löste eine wahre Fotografierevolution aus, welche die Erstellung und Verbreitung von Bildern enorm vereinfachte und beschleunigte.

Demokratisierung des Mediums

Die Leica I war leicht, kompakt, robust. Dass man sie einfach bei sich tragen konnte, machte Fotografen, die bis dahin schwer an ihrem sperrigen Equipment zu tragen hatten, zu Flaneuren, die leichtfüßig und schnell den Ereignissen auf der Spur sein konnten. Im Vergleich zu den monströsen Vorgängern war die Leica ein Leichtgewicht der Fotografie – nicht aber hinsichtlich der Bildqualität. Sie löste nicht weniger als eine Demokratisierung des Mediums aus. 36 Aufnahmen pro Filmrolle waren möglich, ein Stativ war dafür nicht mehr zwingend erforderlich. Henri Cartier-Bresson, dessen Name mit einer späteren Version der Leica unzertrennlich verbunden ist und der in Bezug auf die Fotografie den Begriff vom »entscheidenden Moment« prägte, sprach im Hinblick auf seine Kamera von der »Verlängerung« seines Auges.

Das Format einer Aufnahme auf dem Filmstreifen – 24 mal 36 Millimeter – erwies sich marktstrategisch und in Sachen Nutzungsfreundlichkeit als Clou. Es verwendete handelsüblichen Kinofilm, verdoppelte die Breite des Einzelbilds durch horizontale statt vertikaler Filmführung und ermöglichte damit eine ausreichend gute Bildqualität bei maximaler Kompaktheit. Barnack erfand aber mit der Leica I nicht nur eine Kamera, sondern auch ein System: Bald folgten Wechselobjektive, Entfernungsmesser, Vergrößerungsapparate. Leitz schuf das erste portable Kamerasystem für den Alltag, die Straßen- und, wie sich herausstellen sollte, auch für die Kriegsfotografie.

Leitz blieb mit seiner Entwicklung, wie bereits erwähnt, nicht lange alleine, sondern rief Konkurrenzhersteller auf den Plan. Zeiss konterte 1932 mit der Contax, technisch komplexer, mit Metallverschluss und integrierter Entfernungsmessung. In den Vierzigern kamen mit Nikon und Canon die ersten japanischen Hersteller hinzu.

Die erste Kleinbildkamera der Welt, die Ur-Leica, von 1914

Die erste Kleinbildkamera der Welt, die Ur-Leica, von 1914

Bild:
Ur-Leica, 1914, Foto: Leica - Leica Microsystems (früher Ernst-Leitz), Wikimedia, Lizenz: CC BY-SA 2.0 de (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/)

Sie orientierten sich an Leica und Zeiss, schufen aber bald eigene Systeme, vor allem Spiegelreflexkameras. 1959 kam die Nikon F heraus, eine robuste, modulare Spiegelreflexkamera, die schließlich zum Standardgerät im Fotojournalismus wurde. Mit ihr begann der Siegeszug der Spiegelreflextechnik, die vielen intuitiver in der Handhabung erschien als Leicas Messsuchertechnik. Canon – der heutige Marktführer – zog ab den achtziger Jahren erfolgreich mit der EOS-Reihe nach. Die Kleinbildkamera war nun Massenware – technisch vielfältig, überall erhältlich und zu beinahe jedem Haushalt gehörend.

Mit dem Kleinbild gelangten Bewegung und Mobilität in die Fotografie. Das wirkte sich besonders auf die Ästhetik der Bilder aus. Ob bei Reportage-, Straßen-, Kunst- oder Kriegsfotografie – überall profitierten Fotografen von der leichten Handhabe des Geräts. Robert Capa fotografierte mit einer Leica den Spanischen Bürgerkrieg, Alfred Eisenstaedt fing einen Kuss zum Kriegsende auf dem Times Square in New York City ein, der in das moderne Bildgedächtnis einging (»Der küssende Seemann«). Erich Salomon schlich sich mit seiner Leica in die Hinterzimmer der Politik und auf diplomatische Konferenzen. Die Kamera wurde zu einer Komplizin.

Straßenfotografie, wie sie Cartier-Bresson, Garry Winogrand oder Robert Frank prägten, wäre ohne das leise, diskrete Klicken des Fotoauslösers der Leica nicht denkbar gewesen. Der Fotograf wurde gewissermaßen zum urbanen Jäger von Bildern. Wie die Essayistin Susan Sontag in ihrem Text »On Photography« 1977 zutreffend bemerkte, bildeten sich einige Begriffe rund um den Akt des Fotografierens, die eine gewisse Aggression implizieren, etwa »Bilder schießen«, das Fokussieren, das einem ins Visier Nehmen gleichkommt, oder das Laden (»to load«) der Filmrolle, wie bei dem Magazin einer Waffe. Kompaktkameras nennt man auf Englisch oft point-and-shoot cameras.

Die Kleinbildfotografie und die Kunst

Auch vor der Kunst machte die Kleinbildfotografie nicht halt. Visionäre und stilprägende Fotokünst­ler:in­nen wie William Eggleston, Diane Arbus (neben ihrer Mittelformatkamera verwendete sie eine Nikon), Nan Goldin, Katharina Sieverding, Daidō Moriyama und Wolfgang Tillmans arbeiteten ganz selbstverständlich mit den relativ kompakten Kameratypen und schufen intime, rohe Bilder – oft jenseits der Perfektion, für die man zur Mittel- oder Großformatkamera hätte greifen müssen. Mit der Kleinbildkamera ließ sich aber die Schönheit der Imperfektion einfangen, wie es sonst kaum möglich gewesen wäre.

Die Kleinbildkamera prägte dabei nicht nur den professionellen Alltag, sondern zusehends auch den Bereich von Amateurnutzern – die Fotografie wurde demokratisiert. Ab den fünfziger Jahren begann die Kamera ihren Siegeszug in die Familien. Ob Kodak, Canon, Nikon oder Olympus – die für immer breitere Schichten bezahlbaren Kleinbildkameras wurden zu der Ware der Konsumkultur. Egal ob Familienurlaube, Geburtstage, Einschulungen oder Wochenendausflüge – alles wurde festgehalten. Die Kamera war ein steter Begleiter im Alltagsleben geworden.

Die Berliner Fotografin und Fotohistorikerin Gisèle Freund schrieb, dass die Fotografie ein Mittel der herrschenden Klasse gewesen sei, um ihr Bild von sich selbst zu verbreiten. Susan Sontag setzte den Gedanken fort, als sie vom Akt des Fotografierens als einem der Aneignung des fotografierten Objekts sprach. Durch den Massenmarkt vollzog sich diese Aneignung in einem nie gekannten Ausmaß. Wer sich das Fotografieren leisten konnte, besaß die Welt, wer nicht, der verschwand geradezu aus ihr. Erinnerungen waren plötzlich zehn mal 15 Zentimeter groß und passten in ein Fotoalbum – erinnerungswürdig erschien von da an oft nur das, was fotografiert worden war.

Goldstandard bis zur Einführung der Digitalkamera

Mit der Zeit wurden Leica-Kameras, auch wegen ihres hohen Preises, zu einem Nischenprodukt, sie finden aber weiterhin ihre passionierten Käufer, seien es professionelle oder Amateurfotografen. Doch was die Firma Leitz/Leica an Innovationen entwickelte, hatte Auswirkungen auf die gesamte Branche: 1954 führte sie mit der M3 das noch heute gebräuchliche M-Bajonett für ihre Objektive ein. Sie besaß einen Messsucher und lief, was die Belichtungszeiten anging, präzise wie ein Uhrwerk.

Mit der M6, erhältlich erstmals 1984, erreichten die Leica-Kameras ihren Höhepunkt. Die vollmechanische Kamera samt elektronischem Belichtungsmesser galt vielen bis zur Einführung der Digitalkamera als Goldstandard, erlaubte ihr empfindlicher Sensor doch ungeahnte Farbdynamik und Mikrokontraste. Viele liebten die Leica nicht nur wegen ihres Prestiges, sondern auch des Gefühls wegen.

Mit der Digitalisierung und dem Einzug von Kompaktkameras und schließlich des Smartphones schien das Kleinbildformat zunächst obsolet. Doch es lebt weiter, in digitaler Form: Vollformatkameras, deren Sensor so groß ist wie ein Kleinbildnegativ, werden allmählich erschwinglicher. Aber auch die Filmpatrone erlebt ein Comeback.

Eine nostalgische Vorliebe für den Look der alten Kameras verbindet sich mit einem Wunsch nach Verlangsamung: Das Fotografieren soll eine bewusste Handlung sein, kein schneller Reflex. 

Der Filmhersteller Kodak, der 2012 Insolvenz anmeldete, wurde umstrukturiert und modernisiert mittlerweile seine Fa­brik in Rochester in den USA. Auf Film aufgenommene Bilder sorgen in sozialen Medien wie Instagram für enorme Interaktionszahlen. Ihre Qualität, Authentizität und auch Fehleranfälligkeit schätzen viele als bewussten Gegensatz zur technisch überladenen Bilderzeugung mit Digitalkameras oder der Bildgenerierung mit Künstlicher Intelligenz.

Rotteten die analogen Kameramodelle lange Zeit in Kisten auf dem Flohmarkt vor sich hin, sind heutzutage Liebhaber und Sammler der alten Kleinbildkameras bereit, stattliche Summen für die gefragten Modelle wie die von Leica, Minolta, Ya­shica, Nikon oder Olympus zu bezahlen. Eine nostalgische Vorliebe für den Look der alten Kameras verbindet sich dabei mit einem Wunsch nach Verlangsamung: Das Fotografieren soll eine bewusste Handlung sein, kein schneller Reflex. Die Kleinbildfotografie ist nicht nur als eine Erfindung im technologischen Sinn zu verstehen, sondern sie hat auch eine neue, eine besondere Form des Sehens gelehrt.