Hausarzt first
Die Wartezeiten für Arzttermine werden länger und länger. Besonders für Bewohner armer Gegenden wird die Facharztversorgung allmählich zum existentiellen Problem. Die Folgen sind in manchen Fällen gravierend: Krebsdiagnosen werden zu spät gestellt und chronische Erkrankungen erst in einem fortgeschrittenen Stadium entdeckt.
Was aber sind die Ursachen der Misere? Statistisch sieht es im hiesigen Gesundheitssystem auf den ersten Blick gar nicht so schlecht aus: mehr Ärzte pro Einwohner gibt es nur in wenigen Staaten und die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit sind die dritthöchsten weltweit. Dennoch ist das Ergebnis nur mittelmäßig: Die Lebenserwartung liegt unter dem EU-Durchschnitt, der Gesundheitszustand gerade von ärmeren Menschen ist schlecht und das Problem der ambulanten Unterversorgung lässt sich schon lange nicht mehr schönreden.
Statistisch sieht es im hiesigen Gesundheitssystem auf den ersten Blick gar nicht so schlecht aus: mehr Ärzte pro Einwohner gibt es nur in wenigen Staaten und die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit sind die dritthöchsten weltweit.
Selbst in Großstädten ist es nicht mehr ungewöhnlich, auf Facharzttermine länger als sechs Monaten warten zu müssen. Das System der staatlich garantierten allgemeinen Gesundheitsversorgung erodiert. Fachärzte drängen ganz ungeniert zu Selbstzahlerleistungen nach dem Motto: auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen behandeln wir in ein paar Monaten, für Bargeld schon morgen.
Dabei geht es nicht nach Dringlichkeit, sondern nach den finanziellen Möglichkeiten der Patienten. Ärztliche Expertise wird gekauft, und hat der Patient sich einmal daran gewöhnt, beim Arzt zu bezahlen, nutzen viele niedergelassenen Fachärzte die Abhängigkeit, Angst und Ahnungslosigkeit ihrer Patienten, um ihnen sinnlose, aber teure Dienstleistungen zu empfehlen, von denen ihr Patient nichts, die Mediziner aber den Gewinn haben.
Gesundheitliches Urteilsvermögen überschätzt
Dagegen könnte eine Verringerung der Facharztkonsultationen schon kurzfristig mehrere positive Effekte haben. So würden viele kostspielige Untersuchungen durch Spezialisten vermieden, die den Patienten nichts bringen. Zum Beispiel Rückenschmerzen: Studien ergaben, dass nach acht Wochen ein großer Teil aller Rückenschmerzen weg sind, egal ob jemand zum Hausarzt, zur Orthopädin oder gar nicht zum Arzt geht. Egal ob man die Schmerzgeplagten in ein MRT schiebt, egal ob man Spritzen gibt oder nicht. Bei Rückenschmerzen lässt sich sowieso nur selten eine spezifische Ursache feststellen, meistens kann man nur die Symptome behandeln.
Viele gehen ohne hausärztliche Konsultation zum Facharzt oder sogar gleich ins Krankenhaus. Dabei überschätzen sie ihr gesundheitliches Urteilsvermögen und schaden sich dadurch selbst. Die mutmaßlichen Gründe dafür sind zahlreich: mangelnde Gesundheitskompetenz, von Medien geschürte Angst, Leistungsdruck und Stress. Heutzutage kann es sich kaum noch jemand erlauben, wegen Rücken- oder Kopfschmerzen zwei Wochen nicht zu arbeiten und unter hausärztlicher Behandlung und Diagnostik den weiteren Verlauf abzuwarten.
Zu wenige Hausärzte
Das liegt nicht nur am Produktivitätsdruck, sondern auch daran, dass es im Verhältnis zur älter und kränker werdenden Gesellschaft zu wenige Hausärzte gibt. Ihr Durchschnittsalter beträgt 55,1 Jahre und viele jüngere Mediziner scheuen das Risiko und die Mühen einer Niederlassung. Das wiederum liegt zum großen Teil an dem Versagen der ärztlichen Selbstverwaltung, organisiert in den Kassenärztlichen Vereinigungen. Statt gezielt eine dauerhaft gute und flächendeckende Versorgung mit Allgemeinmedizinern und Kinderärzten sicherzustellen, wurden und werden finanzielle Mittel an Fachärzte und in eine teure Notfallversorgung geleitet.
Das Argument, es handle sich bei dem im Koalitionsvertrag von Union und SPD geplanten Primärarztsystem – zunächst muss der Hausarzt aufgesucht werden, der gegebenenfalls die Überweisung zum Facharzt ausstellt – um eine Bevormundung der Patienten, ist falsch. Im Idealfall erspart es Letzteren aufwendige Untersuchungen und überflüssige Behandlungen, schafft dadurch fachärztliche Kapazität für Schwerkranke und stärkt die Rolle der Allgemeinmedizin. Notwendig ist aber ein begleitender Ausbau der haus- und kinderärztlichen Versorgung gerade in für ärztliche Niederlassung unattraktiven Regionen. Überlässt man diese wichtige Aufgabe den Kassenärztlichen Vereinigungen, werden wir darauf noch sehr lange warten.