Zurück zu den Taliban
Wo Armut und Perspektivlosigkeit herrschen, verlassen Menschen ihre Heimat. Migration ist ein Ergebnis von Planungsversagen und Entwicklungsdefiziten, war auch schon immer ein Mittel, um Armut zu entkommen. Die Süd-Süd-Migration, also die Wanderung zwischen Ländern des sogenannten Globalen Südens, findet zum größten Teil in Südasien statt.
Die meisten Migranten aus Afghanistan bleiben in Nachbarländern: 4,5 Millionen Afghanen lebten Anfang 2023 im Iran, weitere rund vier Millionen in Pakistan. Von diesen kamen 1,4 Millionen mit afghanischem Ausweis und haben deshalb offiziellen Flüchtlingsstatus erhalten, 840.000 weitere haben afghanische Staatsbürgerkarten von pakistanischen Behörden; rund 1,7 Millionen besitzen keine offiziellen Dokumente und damit auch keine Aufenthaltserlaubnis.
Seit 2023 schieben der Iran und Pakistan massenhaft nach Afghanistan ab. In der ersten Phase der im Oktober 2023 begonnenen pakistanischen Kampagne »Illegal Foreigners Repatriation Plan« wurden diejenigen ohne Aufenthaltserlaubnis zur Ausreise aufgerufen. Knapp eine Million Ausreisen nach Afghanistan hat Pakistan seitdem forciert. Die zweite Phase begann im April und betrifft Afghanen mit Staatsbürgerkarten, die von den pakistanischen Behörden für ungültig erklärt werden. Der Iran hat insgesamt etwa 1,9 Millionen Afghanen ausgewiesen, davon 1,2 Millionen allein im Jahr 2024.
Pakistanern, die Afghanen ohne gültige Visa als Arbeitskräfte beschäftigen oder an sie vermieten, drohen nun Strafverfahren.
Pakistan belegt den zweiten Platz im Global Terrorism Index 2025 der Länder, die die meisten Terroropfer zu verzeichnen haben. Die Regierung in Islamabad beschuldigt die afghanischen Taliban, den Terrorismus zu unterstützen. Die Zahl der pakistanischen Todesopfer von Terroranschlägen ist im vergangenen Jahr um 45 Prozent auf 1.081 gestiegen – hauptsächlich verursacht durch die pakistanischen Taliban, die Tehreek-i-Taliban Pakistan (TTP). Die meisten ihrer Anhänger sind Paschtunen mit afghanischen Wurzeln. Pakistan befürchtet, dass sie in Besitz der von den USA in Afghanistan zurückgelassenen Militärausrüstung geraten könnten. Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2021 blieben Waffen im Wert von sieben Milliarden US-Dollar zurück, darunter 40.000 Militärfahrzeuge und über 300.000 Waffen.
Die Unterstützung für die Abschiebungen ist auch aufgrund der Jugendarbeitslosigkeit im Land hoch. Pakistanern, die Afghanen ohne gültige Visa als Arbeitskräfte beschäftigen oder Wohnraum an sie vermieten, drohen nun Strafverfahren. Ausreisepflichtige und ihre pakistanischen Unterstützer können mittels einer kostenlosen Telefon-Hotline den Behörden gemeldet werden. Afghanistans Taliban-Regime kritisiert die Abschiebungen von Schutzsuchenden als »unislamisch« und will sich nicht unter Druck setzen lassen von Ländern, die afghanische Migranten dazu benutzen wollen.
Anfangs war das »Islamische Emirat Afghanistan« mit der Vielzahl an Rückkehrern überfordert. Die Abgeschobenen sind in ein Land in einer verheerenden humanitären und wirtschaftlichen Krise zurückgekehrt und viele von ihnen hatten Schwierigkeiten, Zugang zu Unterkünften, medizinischer Versorgung und Lebensmitteln zu erhalten. Mittlerweile klappt es mit der Reintegration ehemaliger Flüchtlinge etwas besser. An den Grenzübergängen sind Notunterkünfte entstanden, in denen Ankommende bei Bedarf Verpflegung und offizielle Ausweisdokumente erhalten.
Drogenökonomie ist zusammengebrochen
Dennoch bleiben die Herausforderungen für Rückkehrer groß: Die familiären Netzwerke, die sie auffangen können, sind meist erst nach weiteren Reisen erreichbar und die grassierende Armut verschärft die Not, insbesondere für Frauen. In der letzten Aprilwoche war die Hälfte der von Pakistan nach Afghanistan Ausgereisten Frauen, ein Großteil minderjährig.
Bislang erkennt kein Land die Taliban-Regierung an, die im August 2021 erneut die Macht übernommen hat, als die von den USA angeführte Militärallianz nach 20 Jahren Krieg einen chaotischen Rückzug aus Afghanistan antrat. Gegenwärtig ist es in Afghanistan aber ruhiger als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Einmarsch der Nato-Truppen. Die Taliban wollen das Land nicht noch einmal zum Zufluchtsort für international agierende Islamisten aller Art verkommen lassen, wenngleich es Hinweise auf al-Qaida-Ausbildungslager im Land gibt. Den »Islamischen Staat – Provinz Khorasan« (ISPK, auch als Isis-K bekannt) haben die Taliban dezimiert und weitgehend zurückgedrängt.
Das rigorose Vorgehen der Taliban gegen den Opiumanbau zeigt die erwünschte Wirkung: Die einst rund eine Milliarde Euro schwere Drogenökonomie – knapp zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung – ist zusammengebrochen. Entsprechendes gilt für die Dienstleistungswirtschaft für NGOs und Nato-Akteure.
Zahlreiche Einschränkungen für Frauen
In wirtschaftlicher und humanitärer Hinsicht bleibt die Lage angespannt. Aufgrund enormer Kürzungen bei USAID, der US-Behörde für Entwicklungshilfe, seit Anfang des Jahres mussten mehrere mobile medizinische Teams ihre Arbeit einstellen. Das Welternährungsprogramm warnt, dass jeder dritte Mensch in Afghanistan von Hunger bedroht sei.
Für Frauen gelten zahlreiche Einschränkungen. Sie sind nicht nur vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, sondern auch von höherer Bildung und öffentlichem Leben. Ein Erlass vom August 2024 verbietet Frauen sogar, außerhalb des Hauses ihre Stimme zu erheben. Von international anerkannten Menschenrechten können Frauen in Afghanistan nur träumen.
Musikinstrumente werden zerstört, Freundschaften mit »Ungläubigen« sind verboten. In den vergangenen Wochen eskalieren immer wieder Grenzscharmützel zwischen pakistanischen und afghanischen Soldaten zu schwererem Beschuss. Gleichwohl herrschen die Taliban unangefochten: Nach zwei Jahrzehnten Krieg akzeptiert die Bevölkerung überwiegend ihre Herrschaft.
Hartes Vorgehen der Taliban gegen den ISPK
Der Konflikt zwischen Afghanistan und Pakistan nährt in Indien Hoffnung, Afghanistan an sich binden zu können. Indien bot den Taliban jüngst eine Entwicklungspartnerschaft an. Rohstoffvorräte in Afghanistan, beispielsweise an Lithium, wecken strategische Interessen auch in China und Russland. Konzerne aus der Türkei und Großbritannien haben bei den Taliban bereits Bergbaukonzessionen erworben.
Der Oberste Gerichtshof Russlands hat Mitte April das dortige Verbot der Taliban aufgehoben, die das Land seit 2003 als terroristische Organisation eingestuft hatte. Russland begrüßt das harte Vorgehen der Taliban gegen den ISPK. Dessen Mitglieder bekannten sich zu einem Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau im März 2024, bei dem mindestens 145 Menschen getötet und mehr als 550 verletzt wurden. Der Iran unterstützt das militärische Vorgehen der Taliban gegen den ISPK ebenfalls.
Die Taliban sind international weit weniger isoliert, als das in westlichen Staaten suggeriert wird.
Während Russland, China, der Iran, die Türkei und Indien aus geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen mit den Taliban kooperieren, halten westliche Staaten an deren Ablehnung fest. Sie begründen dies mit aus dem islamischen Rechtssystem resultierenden Verletzungen der Menschenrechte, deren Festschreibung durch die UN jedoch viele Beobachter im Globalen Süden imperialistische Absichten unterstellen. Die Taliban sind international weit weniger isoliert, als das in westlichen Staaten suggeriert wird.
Gleichzeitig bleibt die humanitäre Lage für die Bevölkerung prekär. Während internationale Akteure die Taliban trotz ihrer repressiven Politik aus strategischem Kalkül immer offener tolerieren, verschärfen die Abschiebungen aus Pakistan und Iran die wirtschaftliche Krise.