»Eine Geschichte, in der ich mich verstecke«
Ein Kunstwerk als stummer Zeuge des Nationalsozialismus: Das ist das Konzept der neuen Graphic Novel »Zwei weibliche Halbakte« von Rénald Luzier, genannt Luz. Der ehemalige Redakteur der Satirezeitung »Charlie Hebdo«, der dem islamistischen Anschlag von 2015 durch Zufall entging, erzählt die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus aus der Sicht des 1919 von Otto Mueller geschaffenen gleichnamigen Bildes. 1925 erwarb es der jüdische Anwalt und Kunstsammler Ismar Littmann. Von den Nationalsozialisten drangsaliert und mit Berufsverbot belegt, nahm Littmann sich 1934 das Leben. 1935 beschlagnahmte die Gestapo mehr als 300 Werke von Mueller, darunter auch »Zwei weibliche Halbakte«, das 1937 in der NS-Wanderausstellung »Entartete Kunst« diffamiert wurde.
Eine angesetzte Versteigerung des Bildes im schweizerischen Luzern 1939 kam mangels Geboten nicht zustande, woraufhin verschiedene deutsche Kunsthändler mit seiner Verwertung beauftragt wurden. Hildebrand Gurlitt verkaufte es unter der Hand dem Kölner Sammler Josef Haubrich.
Nach dem Krieg wurde das Bild als Teil von dessen Sammlung dem Wallraf-Richartz-Museum, dem heutigen Museum Ludwig in Köln, gestiftet. 1999 erstritt Ruth Haller, Tochter von Ismar Littmann, die Restitution des Bildes. Das Museum Ludwig kaufte es wenig später von Haller zurück. Heute hängt das Bild in der dortigen Abteilung für expressionistische Kunst. An dieser Station endet die Graphic Novel.
Die deutsche Ausgabe des Buches wurde in der vergangenen Woche auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Luz im Museum Ludwig vorgestellt. Es ist ein insgesamt düsterer Comic mit dokumentarischem Charakter und abrupt wechselnden Perspektiven, die die Bewegungen des Bildes, aus dessen Sicht erzählt wird, anzeigen. Das Buch kann man zudem auch als Kommentar zur Gegenwart lesen: als Appell, wachsam für den Aufstieg der extremen Rechten und politische sowie kulturelle Zensur zu sein.
*
Die Beschäftigung mit der von den Nazis als »entartet« diffamierten Kunst hat Sie auf Otto Muellers »Zwei weibliche Halbakte« aufmerksam werden lassen. Der entscheidende Kniff Ihres Comics ist, das Bild zur Hauptfigur zu machen: Gezeigt wird nur, was sich unmittelbar vor dem Gemälde abspielt. Man sieht mit den Augen des Bildes. Warum?
Das ist eine sehr lange Geschichte. Es gibt Bücher, deren Verlauf man schon genau im Kopf hat. In diesem Fall war das nicht so. Hier war alles eine Frage der Intuition. Es ist schwer, den Startpunkt dafür ausfindig zu machen.
Welcher Intuition sind Sie da gefolgt?
Zunächst einmal wollte ich eine Geschichte erzählen, in der ich mich selbst in gewisser Hinsicht verstecken kann, ein Jahrzehnt nach der Attacke. Ich habe versucht, einen safe space für mich zu schaffen, in dem ich mich etwa auch in der Lage fühle, alleine zu sein. Das war nicht einfach. Ich verhandle auch mein eigenes Leben, aber das geschieht, ohne dass ich mich selbst in den Vordergrund stelle. Es geht hier auch um Distanz. Ein Gefühl für Abstand existiert gerade in unserer Zeit kaum noch, auch bedingt durch Medien wie Instagram, ich selbst benutze kein Social Media mehr.
»Ich halte es für wichtig, nachzulesen, was die Nazis von sich gegeben haben. Man muss sich nur einmal anschauen, wie AfD-Vertreter in Sachsen-Anhalt über das Bauhaus gesprochen haben.«
Der Comic hat einen dokumentarischen Charakter. Wie sah die Recherche aus?
Bei diesem Buch diente mir die Geschichte als soziales Netzwerk: In ihr habe ich Menschen entdeckt, die ich bewundere, aber hier bin ich auch Menschen begegnet, die ich verachte. Fast alle Charaktere in meiner Geschichte haben real existiert, natürlich Otto Mueller oder Ismar Littmann. Ich musste daher vorsichtig sein und auch viel über jene Menschen herausfinden. Genauigkeit ist wichtig. In diesem Fall erschaffe ich ja nicht aus dem Nichts heraus, es geht um Angemessenheit. In dem Buch tauchen jedoch auch Charaktere auf, die ich tatsächlich getroffen habe. Ich werde nicht alle Stellen erklären. Aber auch viel von mir selbst ist in viele Details eingeflossen. Es geht in dem Buch jedenfalls nicht nur um die Nazis oder um Kunst, es widmet sich sehr vielen Dingen und die Leser:innen befinden sich sozusagen im Bildrahmen.
Die Wanderausstellung »Entartete Kunst« mit ihren verschiedenen Stationen in deutschen Städten ist dennoch zentral. Der Eröffnungsrede des Malers und NS-Funktionärs Adolf Ziegler voller antisemitischer Hetze geben Sie sogar sehr viel Raum. Warum?
Ich glaube, es ist wichtig, sich die gesamte Rede anzuschauen. Lediglich ein oder zwei Sätze haben es nicht in das Buch geschafft, weil es dann doch zu lang geworden wäre. Ansonsten handelt es sich exakt um diese Rede. Ich halte es insbesondere heutzutage für wichtig, nachzulesen, was die Nazis von sich gegeben haben. Man muss sich nur einmal anschauen, wie AfD-Vertreter in Sachsen-Anhalt über das Bauhaus gesprochen haben. In der Rede von Ziegler findet man dieselbe Sprache und manchmal die gleichen Worte.
Besorgt es Sie, wie 80 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus mit Geschichte umgegangen wird?
Selbstverständlich!
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Wachhalten von Erinnerung?
Ich denke dabei an die Reise des Gemäldes, die mit Hass, Exil und Grausamkeit verknüpft ist. Das Kunstwerk musste all das mit ansehen. Es konnte nicht mit den Augen blinzeln oder den Kopf wegdrehen. Genau das ist der Punkt, das Gemälde hat alles mitbekommen: die ökonomischen Probleme der Galeristen (im Zuge der Weltwirtschaftskrise; Anm. d. Red.), den Aufstieg der Rechtsextremen, Suizid, Tod. Und wenn es nach und nach keine Menschen mehr gibt, die bezeugen können, was im vergangenen Jahrhundert geschehen ist, dann ist es auch unsere Verantwortung als Künstler:innen, Zeugen in einem künstlerischen und kulturellen Sinne zu sein, um jene Zeugenschaft gewissermaßen zu verlängern, zu erweitern.
Was hat die Geschichte des Bildes mit Ihrer eigenen Biographie zu tun?
Damals, kurz nach der Attacke, bin ich zum Büro (von Charlie Hebdo; Anm. d. Red.) gegangen. Als ich ankam, sah ich einen Freund auf dem Boden, er lebte noch. Man hielt mich davon ab, in einen Redaktionsraum zu gehen. Daraufhin bin ich in ein anderes Zimmer gegangen. Dort erblickte ich einen anderen Freund, der als Lektor tätig war. Er war tot. Sein Kopf lag auf dem Boden. Sein Körper war vielleicht das Einzige, was ich in diesem Moment wahrgenommen habe. Als ich dann an diesem Comic saß und an Littmanns Suizidversuch …
… an dessen Folgen der Anwalt starb …
… gearbeitet habe, entdeckte ich irgendwann, dass ich Littmann in exakt der Position gezeichnet habe, in der ich damals meinen getöteten Freund aufgefunden habe. Darüber habe ich mit meinem Psychotherapeuten gesprochen. Es ist unglaublich: Jenes Bild blieb in meinem Kopf hängen und ich habe es erst in diesem Buch reproduziert. Auf diese Weise konnte ich ein eigenes Erlebnis mit Abstand teilen. Wenn ich tot bin oder nicht mehr dazu in der Lage sein werde, über das zu erzählen, was mir geschah, dann muss sich jemand um meine Zeugenschaft kümmern. Ich weiß, dass diese Aufgabe ein Freund von mir übernehmen wird: Dieser Freund ist dieses Buch hier.
Ihr Buch erscheint in einer Zeit, in der Revisionismus und rechtsextreme Parteien in Europa, insbesondere aber auch in Deutschland immer mehr Aufschwung bekommen. Wie nehmen Sie die politische Entwicklung in Frankreich wahr?
Ich habe das Buch vor ungefähr einem Jahr beendet. Es war Ende Mai, die Europawahl stand kurz bevor. Die französischen Rechtsextremisten haben dann mit über 30 Prozent gewonnen. Das kam mir schlicht unglaublich vor.
Verstehen Sie den Comic über das Schicksal des Bildes als einen Kommentar über die politische Gegenwart?
Ich habe viele Monate an diesem Buch gearbeitet und die Idee dazu schon seit Jahren mit mir herumgetragen. Das Buch ist ja eher historisch, aber dann fühlte es sich eindeutig gegenwärtig an. Es war wie ein Fluch und es wurde immer schlimmer: Denn wir erleben gerade viele Angriffe auf die Kunst, die sich weltweit in vielen illiberalen Staaten ereignen, nun sogar in den USA unter Trump. Dieses Buch wirkt immer aktueller. Vielleicht interessieren sich deshalb vor allem französische Menschen dafür, sie erkennen etwas von sich selbst in der Geschichte. Es wird etwas erzählt, das sich eventuell auch heute ereignet.
»Wenn wir akzeptieren, dass wir Symbole sind, sind wir tot. Ich bin kein Anwalt und kein Symbol. Ich bin Zeichner, ein dessinateur.«
Die Arbeiten Otto Muellers, die von den Nazis geächtet waren, werden in jüngerer Zeit von linker und feministischer Seite als »sexualisierend«, »objektifizierend« und »antiziganistisch« kritisiert. Empört Sie das?
Ich verstehe einige Ansichten dazu. Man sollte sich daran erinnern, woher manche Bilder kommen. Es gibt ja Beispiele von Menschen, die nach Afrika gereist sind, um sich dort von Kunst inspirieren zu lassen. Vor allem viele Künstler aus dem Expressionismus haben so damals den Primitivismus entdeckt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war diese Kunst in den Museen noch neu. Wir sollten uns daher die Provenienz bewusst machen, es sollte an entsprechender Stelle darauf aufmerksam gemacht werden. Das Problem mit Otto Mueller ist nun, dass er sich selbst als Angehörigen der Sinti und Roma betrachtete. Wir können heute sehr sicher sein, dass er das nicht war. Aber er selbst glaubte das. Er zeichnete eine Gemeinschaft, der er sich selbst zugehörig fühlte. So gesehen war er kein Dieb einer Kultur. Er wollte einer Kultur möglichst nahe sein, von der er annahm, sie in sich selbst zu tragen. Ich kenne aber nicht alle Entwicklungen von Otto Mueller.
War das mit ein Grund, dass Sie sich für Otto Mueller entschieden haben?
Ich wurde erst beim Schreiben darauf aufmerksam gemacht, dass Ausstellungen über ihn auch umkämpft sind. Für mich hat er keine exotischen Dinge gezeichnet. Ich glaube, dass er auf der Suche nach einem persönlichen Arkadien war. Das unterscheidet sich von kultureller Aneignung. Auch wenn es von außen betrachtet so wirkt. Aber wenn man sich ihm annähert, was ich im Buch auch versuche, wird deutlich, dass es sich nicht um kulturelle Aneignung handelt. Es gibt wohl viele Missverständnisse Mueller betreffend – das liegt vermutlich auch daran, dass er sich selbst nicht richtig verstanden hat.
Sie haben sich immer für die Freiheit der Kunst eingesetzt, Sie sind sozusagen ein Fürsprecher, ein Anwalt für …
Ich, ein Anwalt? Ich bin ein Anwalt für gar nichts. Ein Anwalt, das ist doch ein echter Beruf. Nach der Attacke sind wir (die Redakteure von Charlie Hebdo; Anm. d. Red.) zu Symbolen geworden. Dabei habe ich schon damals gesagt, dass wir unser ganzes Leben lang Symbole bekämpft haben. Wenn wir akzeptieren, dass wir Symbole sind, sind wir tot. Ich bin kein Anwalt und kein Symbol. Ich bin Zeichner, ein dessinateur. Das bedeutet nicht Karikaturist. Ich bin einfach jemand, der zeichnet. Und jemand, der wie ein Kind zeichnen kann, ist sehr frei. Das hat etwas mit Poesie zu tun. Vielleicht reicht das schon aus.
»Ich glaube, dass Wokeness gut ist. Jetzt muss es nur noch kreativ werden.«
Lassen Sie uns kurz bei der Debattenkultur in der Linken bleiben. Einerseits ist ihr Sensibilität für eine diskriminierungsfreie Sprache zu verdanken, andererseits errichtet sie neue Tabus, etwa wenn es um den Umgang mit Islamismus geht.
Das ist ein großes Thema. Viele Menschen in Frankreich sind sehr nostalgisch. Sie sagen, man könne nicht jedes Thema ansprechen. Ich denke, das ist falsch. Beim Zeichnen ist es eine Frage der Kreativität. Ich glaube auch, dass Wokeness gut ist. Jetzt muss es nur noch kreativ werden (lacht). Man muss kreativ sein und sollte dabei keine Angst haben. Aber auf diese Weise kann man dann sowohl von antiwoken als auch von woken Menschen gehasst werden. Davon bin ich überzeugt. Gerade in Frankreich ist man von Wokeness regelrecht besessen. Der französische Sänger Philippe Katerine ist ein guter Freund von mir. Er ist ein Poet, ich bewundere ihn sehr. Im vergangenen Jahr trat er bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele auf. Er war nackt und blau angemalt, auch sein Song war explizit. Der Auftritt wurde ein großer Skandal. (Rechtsextreme Politiker und katholische Würdenträger warfen Katerine etwa Blasphemie vor; Anm. d. Red). Menschen haben ihm geschrieben, dass sie ihn hassen. Sie bezichtigten ihn, Wokeness zu fördern. Erst dadurch hat er das Wort »woke« überhaupt entdeckt. Er dachte sich: Wenn mir diese aggressiven Menschen schreiben, dass ich woke bin, dann bin ich es vielleicht auch.
Luz: Zwei weibliche Halbakte. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Reprodukt, Berlin 2025, 192 Seiten, 29 Euro