Erinnern im Wohnzimmer
Ein lauer Frühlingsabend in einer Altbauwohnung in Berlin-Schöneberg, es klingelt laufend an der Tür. Lorie und Julian begrüßen Gäste. Die ziehen ihre Schuhe aus und suchen sich einen Platz im stuckverzierten Wohnzimmer. Zu hören ist ein Sprachgewirr aus Deutsch, Englisch und natürlich Hebräisch. Julian und Lorie, ein IT-Spezialist aus Deutschland und eine israelisch-kanadische Pädagogin, haben an diesem Abend ihre Wohnung für ein Wohnzimmergespräch mit einer Zeitzeugin der Shoah geöffnet, zu einem Zikaron baSalon. Wörtlich übersetzt bedeutet das »Erinnerung im Wohnzimmer«.
Entstanden ist die Idee 2011 in Israel anlässlich des Yom haShoah, also des Holocaust-Gedenktags, der in Israel immer kurz nach Pessach begangen wird. Dann dröhnen im ganzen Land um zehn Uhr alle Sirenen, und alles, sogar der Verkehr auf der Autobahn, steht still, um der in der Shoah ermordeten Juden zu gedenken. Die Initiative Zikaron baSalon will den Menschen einen direkteren, emotionaleren Zugang zum Thema ermöglichen und die noch lebenden Zeitzeugen zum Sprechen ermutigen. Und das geht in einem Wohnzimmer viel leichter als vor großem Publikum.
»Es gibt keine Frage, die ich nicht beantworte.« Ruth Winkelmann, Shoah-Überlebende
Weltweit hat die Organisation nur sieben angestellte Mitarbeiter. Sie vermitteln Kontakte zu Zeitzeugen und beraten und schulen die Gastgeber. Durch das Engagement vieler Freiwilliger gelang es, dass inzwischen weltweit gut 1,5 Millionen Menschen in 60 Ländern an einer Veranstaltung von Zikaron baSalon teilnehmen konnten. Seit mehr als zehn Jahren wird zu solchen Veranstaltungen auch in Deutschland eingeladen. Im Jahr 2023 intensivierte Zikaron baSalon seine Aktivitäten hierzulande, allein 2024 fanden 350 Wohnzimmertreffen statt.
Für die Gastgeber Lorie und Julian ist es das erste Mal, dass sie zu solch einem Abend eingeladen haben. Sie wirken ein bisschen aufgeregt. Alle Gäste sind Freunde oder Freunde von Freunden. Ein Zikaron baSalon soll klein und vertraut sein, denn über Traumata und mögliche Resilienz offen zu sprechen, ist nur möglich, wenn alle Beteiligten sich wohl und sicher fühlen. Nur einen Gast kennt an diesem Freitagabend in Schöneberg noch niemand, und das ist Ruth Winkelmann, eine 96jährige Berlinerin, die deutlich jünger aussieht.
Freundlich blickt die kleine Frau mit der Davidsternkette in die Runde. »Es gibt keine Frage, die ich nicht beantworte«, sagt sie selbstbewusst und bittet alle Gäste, sich einmal kurz vorzustellen, bevor sie spricht. Im Kreis sitzen neben vielen Menschen mittleren Alters und Senioren auch ein paar Grundschulkinder. Noch sind sie mit den bereitgestellten Süßigkeiten beschäftigt, aber als Ruth Winkelmann beginnt, von ihrem Leben zu erzählen, hören auch sie still zu.
Als sogenannte »Halbjüdin« mit 13 Jahren »dienstverpflichtet«
Ruth Jacks, wie sie damals noch hieß, kam 1928 in Berlin zur Welt. Ihr Vater Hermann war Jude, die Mutter Elly konvertierte bei der Eheschließung. Die Folgen des antisemitischen Verfolgungswahns der Nationalsozialisten bekam Ruth schon als kleines Mädchen mit. »Manche Kinder hatten ganz plötzlich keine Zeit mehr für mich«, erzählt sie. Als Schülerin der Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße in Berlin-Mitte sah sie die Folgen der Reichspogromnacht am 9. November 1938. Sie nahm wahr, wie ihre Klasse immer kleiner wurde, weil viele Schülerinnen mit ihren Eltern auswanderten. Ihrer Familie gelang dies aus finanziellen Gründen nicht, die Ehe der Eltern wurde 1941 geschieden – »von Amts wegen«, wie Ruth sagt, denn den Nazis habe deren liebevolle Ehe als »Rassenschande« gegolten. Den Vater deportierten sie 1943 nach Auschwitz, wo er zunächst in der Außenstelle Monowitz Zwangsarbeit leisten musste. »Fünf Postkarten hat er noch geschickt, dann kamen keine mehr«, erzählt sie.
Sie selbst wurde als sogenannte »Halbjüdin« mit 13 Jahren »dienstverpflichtet«, musste als Zwangsarbeiterin in einem Betrieb Uniformen ausbessern; jeden Tag zwölf Stunden lang. »Diese Arbeit hat mir das Überleben gerettet«, sagt sie heute. Sie glaubt, der Besitzer der Firma habe die Nazis bestochen, um die Arbeiter in Berlin zu halten. Sicher weiß sie es aber nicht. »Das ist mir schietegal«, betont sie, »ich habe überlebt, das ist die Hauptsache.« Eines Tages wurden Ruth und ihre kleine Schwester Esther in das Sammellager Große Hamburger Straße in Berlin-Mitte gebracht. Die Mutter, die wegen der Konversion bei den Nazis als »Geltungsjüdin« klassifiziert wurde, schaffte es, die Mädchen herauszuholen. Denn gemäß der Nazi-Ideologie waren sie ja »nur Mischlinge ersten Grades«.
Die letzten Kriegsjahre hat Ruth mit Mutter und Schwester in einer primitiven Gartenlaube in Berlin-Wittenau gelebt. Aus Angst vor einer Deportation wollte die Mutter mit den beiden Mädchen nicht mehr in der ohnehin durch Bomben beschädigten Wohnung bleiben. Angst, Hunger und Ungewissheit prägten das Leben der Familie. Zur Ausgrenzung und Verfolgung durch die Deutschen kam dann auch noch die schwere Bombardierung Berlins hinzu. »Als Juden durften wir ja nicht in die Luftschutzbunker.« Geduldig erklärt sie einem Gesprächsgast, dass sie den gelben »Judenstern« tragen musste, ob sie wollte oder nicht.
55 Prozent befürworten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit
Ruths kleine Schwester Esther bestand den Überlebenskampf nicht und starb im Frühjahr 1945 an Diphtherie. Als dann im Mai 1945 endlich sowjetische Soldaten nach Wittenau kamen, sei sie einfach nur erleichtert gewesen, erzählt sie der Runde. Oft habe sie dabei an ihren Vater denken müssen, sie habe gehofft, ihn wiederzusehen. »Bei jedem Mann, der ihm ein bisschen ähnlich sah oder ähnlich ging, dachte ich, es könnte mein Vati sein.« Dass die Nazis ihren Vater genau wie seine gesamte Verwandtschaft ermordet hatten, erfuhr sie erst etwas später.
Ruth war schon im höheren Alter, als sie begann, als Zeitzeugin von ihren Erlebnissen zu erzählen; meistens vor Schulklassen an Sekundarschulen. »Viele Schüler in Deutschland wissen einfach viel zu wenig über den Holocaust«, sagt Lorie, die sich als Pädagogin in einem Projekt auch beruflich mit dem Thema befasst. Manche Lehrer würden solche Zeitzeugengespräche oder Gedenkstättenfahrten wie ein lästiges Pflichtprogramm abspulen und nicht gut vorbereiten.
Nach einer repräsentativen Studie der Zeit befürworten 55 Prozent der Befragten, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus zu ziehen. Zuletzt hatte die Zeitung vor fünf Jahren eine vergleichbare Befragung veröffentlicht. Seitdem ist die Zustimmung zu einem Schlussstrich um zwei Prozentpunkte gestiegen. Der Aussage »Die Zeit des Nationalsozialismus wird viel zu einseitig und negativ dargestellt – sie hatte auch ihre guten Seiten« stimmten nun 28 Prozent der Befragten »voll und ganz« oder »eher« zu, 2020 waren es noch 22 Prozent.
KZ-Tätowierung am Arm der Kindergärtnerin
»Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit«, sagt der in Berlin lebende Israeli Shai Levi, der die Aktivitäten von Zikaron baSalon außerhalb Israels koordiniert. Er habe als Kind die KZ-Tätowierung am Arm seiner Kindergärtnerin gesehen und Fragen gestellt, auch innerhalb der Familie, der einige polnische Holocaust-Überlebende angehörten. Bald gebe es gar keine Holocaust-Überlebenden mehr, die davon aus erster Hand berichten können. Derzeit gibt es weltweit noch rund 200.000 Shoah-Überlebende, 11.900 davon in Deutschland. Die meisten leben in Israel. Einer Prognose der Jewish Claims Conference zufolge werden es in sechs Jahren nur noch halb so viele sein.
Inzwischen erzählen auch Nachfahren von Überlebenden bei Veranstaltungen von Zikaron baSalon die Geschichten derer, die schon tot sind. »Das Trauma betrifft ja nicht nur eine Generation«, sagt Jacob Horowitz. Als damaliges Vorstandsmitglied der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) initiierte er im Jahr 2024 die Veranstaltungsreihe »Zikaron baCampus« an vielen deutschen Universitäten. »Gerade in dieser Zeit müssen die Leute verstehen, was Judenhass ist, besonders im universitären Bereich finde ich das so wichtig.« Die Unis seien kooperativ und die Studierenden sehr respektvoll gewesen, findet er. Nur an einer Hochschule habe die Antisemitismusbeauftragte aus Angst vor Störaktionen durch die sogenannte propalästinensische Szene Bedenken gehabt. Sie habe gefürchtet, so etwas könne auf einen Überlebenden der Shoah retraumatisierend wirken. Durch gute Sicherheitskonzepte habe man Derartiges aber immer vermeiden können, betont er.
In Israel kamen bei Zikaron baSalon schon Shoah-Überlebende mit Überlebenden des Hamas-Massakers zusammen, um gemeinsam zu berichten, zu trauern, aber auch um über Resilienz zu sprechen.
Auch an dem Abend in der Schöneberger Altbauwohnung ist Sicherheit ein Thema. Viele Gäste bedanken sich dafür, dass der sichere Ort zur Verfügung gestellt wurde. Einige erzählen von ihrer Angst, nach dem 7. Oktober in der Öffentlichkeit als jüdisch identifiziert zu werden. Oder davon, dass sie sich nicht mehr vorstellen können, ihre Kinder in eine öffentliche Schule in Berlin zu schicken. In Israel kamen bei Zikaron baSalon schon Shoah-Überlebende mit Überlebenden des Hamas-Massakers zusammen, um gemeinsam zu berichten, zu trauern, aber auch um über Resilienz zu sprechen.
»Forme die Zukunft« – mit einer Diskussion zu diesem Thema soll der Website der Initiative zufolge jede Veranstaltung enden. Jeder solle für sich überlegen, welche Folgerungen aus den Schilderungen der Überlebenden zu ziehen seien. »Man sollte auf jeden Fall noch jede Gelegenheit nutzen, an solchen Gesprächen teilzunehmen«, sagt eine Besucherin.
Lorie und Julian können sich gut vorstellen, irgendwann wieder ihre Türen zu öffnen. Shai Levi, der Organisator, ist schon wieder unterwegs, um andere Veranstaltungen zu unterstützen. Und Ruth Winkelmann? Sie sitzt an einem Tisch im Wohnzimmer und genießt israelische Spezialitäten und Challah – denn eine kleine Schabbat-Feier schloss den Abend ab. Immer wieder kommen Gäste zu ihr, denen doch noch eine Frage eingefallen ist.