15.05.2025
Kino der Transformation – Jia Zhangke unternimmt mit »Caught by the Tides« eine berauschende Zeitreise durch die Volksrepublik China

Transit der Träume

In einem Epos voll rauer Poesie erzählt Jia Zhangke von den Umbrüchen in China. »Caught by the Tides« ist ein atemberaubender Film, der das Indie-Kino aus der Not der Pandemie heraus neu erfunden hat.

Der extreme »Pulp Fiction«-Bob, den die junge Frau aus der nordchinesischen Bergarbeiterstadt Datong zu Beginn des Films trägt, hebt sie aus der Masse heraus. Qiao Qiao, gespielt von Zhao Tao, der Stammschauspielerin (und Ehefrau) des Regisseurs Jia Zhangke, hat viele Träume.

Eine unangepasste Frau, die nicht als Arbeiterin in einer verwüsteten Region enden will, der in Zukunft ohnehin die Arbeit auszugehen droht. Sie modelt im örtlichen Kaufhaus, tanzt melancholische Choreographien im Kulturpalast und tritt in Musikclubs auf.

Kein Halt, nirgendwo. Guo Bin (Li Zhubin) eröffnet Qiao Qiao (Zhao Tao) seine Pläne

Kein Halt, nirgendwo. Guo Bin (Li Zhubin) eröffnet Qiao Qiao (Zhao Tao) seine Pläne 

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X Stream Pictures

Später, in einer slapstickhaften Schlüsselszene, zieht sie sich die Perücke ab. Ein Akt, der das Ende ihrer Jugendlichkeit und ihrer Illusionen markiert. Die Popkultur – der ikonische Bob ist eine Referenz an Uma Thurman und Quentin Tarantino – hat ihre sinnstiftende Funktion für Qiao Qiao verloren. Implodiert ist auch ihr Glaube an die Zukunft und die einzige große Liebe, von der eine Gruppe Arbeiterinnen in der Eröffnungsszene des Films am Frauentag gesungen hat.

Mit dem Motiv des verhinderten Paars adressiert der Film auch die in China virulenten Probleme der vielen Pendler, Arbeitsnomaden und Wanderarbeiter, die Fernbeziehungen im Riesenreich normal werden lassen.

»Caught by the Tides« ist ein Film, der seine hypnotische Kraft seinen Bildern und ihrer Untermalung mit Musik unterschiedlicher Stile und Genres verdankt. Einen Plot im eigentlichen Sinne gibt es nicht, die Handlung ist nur ein vages Geschehen, das die verrinnende Zeit konturiert. Wind greift in die gewaltigen Straßenschluchten verwahrloster Wohnblöcke. Winzig erscheinende Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Junge Leute pogen auf einem Dancefloor. Vor einem Panorama postsozialistischer Trostlosigkeit zeichnet sich sukzessive die epische, aber brüchige Liebesgeschichte von Qiao Qiao und Guo Bin (Li Zhubin) ab. Sie umfasst den für einen Film nicht eben kurzen Zeitraum von 2001 bis in die jüngere Vergangenheit der Jahre der Covid-19-Pandemie.

Datong, zur Jahrtausendwende: Die junge Qiao Qiao verfällt dem umtriebigen Bin, der als Veranstalter in den Ruinen der ehemals florierenden Industriestadt die lokale Bevölkerung zu bespaßen versucht. In einem auf einer Brache gestrandeten Linienbus voll skurriler Artefakte eröffnet Bin ihr seinen Plan, abzuhauen, um sein Glück beim Bauprojekt des Drei-Schluchten-Damms zu machen. Wenn er es dort geschafft hat, wird er sie nachholen.

Steinerner Zeuge. Skulptur eines Astronauten in Datong

Steinerner Zeuge. Skulptur eines Astronauten in Datong

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Im rauen Surrealismus der Szenerie wird die existentielle Verunsicherung der Figuren spürbar, wie man sie aus früheren Filmen des US-amerikanischen Indie-Kinos etwa eines Jim Jarmusch kennt. Die spärlichen, rätselhaften Dialoge vermitteln Stimmungen, aber tragen wenig dazu bei, die Personen genauer zu charakterisieren oder die Handlung voranzubringen.

Was die irrlichternden Figuren zu einem unmöglichen Paar werden lässt, ist eine unbestimmte Sehnsucht, die aber keine dauerhafte Erfüllung findet, weil sie die Anziehung zueinander nie im selben Maße im selben Augenblick empfinden. Mit dem Motiv des verhinderten Paars adressiert der Film auch die in China virulenten Probleme der vielen Pendler, Arbeitsnomaden und Wanderarbeiter, die Fernbeziehungen im Riesenreich normal werden lassen.

Auf dem Weg, den die zwei getrennt voneinander durch ein knappes Vierteljahrhundert gewaltiger Transformationen gehen, verliert die Kamera beide nie ganz aus dem Blick. Der Fokus liegt jedoch auf der Transition der reifer werdenden Qiao Qiao, die auf der Suche nach Bin den Jang­tse befährt und Zeugin gigantischer Eingriffe in die spektakuläre Natur- und Stadtlandschaft an den Ufern des Stroms wird.

Die Protagonistin bleibt vollkommen stumm

Das vielleicht Merkwürdigste an dem mit dokumentarischen sowie inszenierten Aufnahmen bebilderten Epos ist der Umstand, dass die Protagonistin darin vollkommen stumm bleibt. Wie betäubt bewegt Qiao Qiao sich zwischen ihrer im Niedergang begriffenen Geburtsstadt Datong und der aufstrebenden Region Hubei, in der der Damm 2006 in Betrieb geht. Eine Qigong-Tänzerin, die ihre Emotionen angesichts der einschneidenden Veränderungen ihrer Umwelt und ihres älter werdenden Körpers nie explizit artikuliert. Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass Qiao Qiao es ist, die sich auf ihrer Wanderung auf ernüchternde Weise selbst findet; am Ende legt sie anders als Bin ihre emotionale Bedürftigkeit ab und akzeptiert die Nichterfüllung der Träume.

»Die Welt ist von Dauer, doch wir sind nur auf der Durchreise«, schmettert ein Frauenchor im Datonger Kulturpalast vor einem Mao-Schinken im ersten Drittel des Films. Seine kreisförmige Dramaturgie verbindet Archaisches mit Futuristischem, Alter und Jugend, Neubeginn und Abschied. In einer symbolisch aufgeladenen Einstellung ist es ein aufmerksamer Roboter, der der verschlossenen Miene der Protagonistin die Andeutung eines Lächelns entlockt. Qiao Qiao kennt die Szene bereits – aus einem Science-Fiction-Film, den sie vor vielen Jahren gesehen hat.

Eine winzige Person in der Stadtwüste: die junge Qiao Qiao

Eine winzige Person in der Stadtwüste: die junge Qiao Qiao 

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Als Jia Zhangke »Caught by the Tides« 2024 in Cannes vorstellte, war klar, dass dem im westlichen Kino wenig bekannten chinesischen Regisseur etwas ganz Besonderes gelungen ist: ein Film, der ihn über den Kreis von Liebhabern des asiatischen Indie-Kinos hinaus bekannt machen dürfte. Die Pointe ist dabei, dass er zu großen Teilen eine Retrospektive seiner bereits bekannten Werke bietet, die mit Archiv- und zeitgenössischem Material ergänzt wurde.

Cineastisches Recycling-Projekt

»Caught by the Tides« ist ein cineastisches Recycling-Projekt, das Szenen aus Zhangkes »Unknown Pleasures« (2002), »Still Life« (2006) und »Ash Is Purest White« (2018) in einer neuen Erzählung montiert. Im erstgenannten Film treiben die beiden jugendlichen Hauptfiguren orientierungslos durch ein von der Aussicht auf die Olympischen Spiele in Peking elektrisiertes Land; in zweiten sucht eine junge Krankenschwester in der Gegend von Fengjie nach ihrem Ehemann; im dritten verstrickt sich das erkennbar erwachsen gewordene Gespann Qiao und Bin in den korrupten Strukturen eines Immobilienprojekts.

Die Montage bekannter Bilder und Szenen verleihen »Caught by the Tides« eine schwindelerregende zeitliche Dimension. Den Protagonisten sieht man dabei zu, wie sie real altern; dem Land, wie es sich sprunghaft wandelt. Lose Enden der Erzählungen werden aufgenommen und weitergeführt; die alltäglichen Szenen mit poetischen Bildern des Drei-Schluchten-Staudamms zusammengeschnitten, die der Filmemacher über lange Zeiträume aufgenommen hat.

Kontakt mit der Zukunft. Qiao Qiao wird von einem Roboter angesprochen

Kontakt mit der Zukunft. Qiao Qiao wird von einem Roboter angesprochen

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Die unorthodoxe Regieentscheidung hat natürlich mit der Vorliebe Zhangkes fürs filmische Zitat zu tun, sie geht aber vor allem auf die pandemiebedingten Einschränkungen während der begonnenen Dreharbeiten in China zurück. Verweigerte Aufnahmegenehmigungen brachten ihn überhaupt erst auf die Idee, sein Filmarchiv zu plündern.

Mit einer Kraft, die man dem Kino kaum mehr zutraut, nimmt der Film die Auswirkungen von Jugendarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Binnenmigration, Umsiedlung, Mediatisierung und Automatisierung ebenso in den Blick wie die Strategien insbesondere der Frauen, mit den Entwicklungen umzugehen; er fängt aber auch die Überforderung der Menschen in den erloschenen Gesichtern der Arbeiter, Bergleute und Supermarktverkäuferinnen ein. In der traumwandelnden Balance zwischen Globalisierungskritik und Zukunftsoptimismus beweist Zhangke sich als genialer Chronist und Poet der Transformation nicht nur in China.

Caught by the Tides (China 2024). Buch: Jia Zhangke, Wan Jihuan. Regie: Jia Zhangke. Darsteller: Zhao Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin, Lan Zhou. Filmstart: 15. Mai