15.05.2025
Andrei S. Markovits, Soziologe, im Gespräch über die Entwicklungen in den USA, die Gemeinsamkeiten von Sport­verbänden mit autoritären Regimes und Nazi-Vergleiche

»Ob Fußball-, Cricket-, Rugby-WM oder Olympia – alle sind Propagandaveranstaltungen«

Mehr als ein Jahr vor dem Anpfiff der Fußball-WM in den USA, Kanada und Mexiko haben Vergleiche mit der Nazi-Inszenierung der Olympischen Spiele 1936 Hochkonjunktur. Die »Jungle World« sprach mit dem Soziologen Andrei S. Markovits über die jüngsten Entwicklungen in den USA, die Gemeinsamkeiten von Sport­verbänden mit autoritären Regimes und Hitler-Vergleiche.

Zunächst: Wie schätzen Sie gegenwärtige Entwicklung in den USA ein? Wird die Fußball-WM im Sommer 2026 in einem Land angepfiffen, das nicht mehr länger eine liberale Demokratie ist, sondern eine Autokratie oder Oligarchie?
Das Wort »Oligarchie« wird total missbraucht. Jede moderne Organisation ist eine Oligarchie, weil sie von einer kleinen Zahl von Leuten geleitet wird. Liberale Demokratien sind auch Oligarchien. Robert Michels hat in seiner bahnbrechenden Studie von vor circa 110 Jahren richtig festgestellt, dass jede Art des Regierens in der modernen Welt oligarchisch ist. Siemens ist oligarchisch, die University of Michigan ist oligarchisch, selbst jeder deutsche Bundesligaverein ist oligarchisch, auch wenn sich die Deutschen so sehr auf die vermeintliche Demokratie ihres Fan-Seins im Fußball berufen.

Oligarchie ist also der Normalfall?
Oligarchie ist ein Modus der organisatorischen Existenz, nichts weiter. Ich würde sogar weiter gehen und mit Michels und anderen argumentieren, dass man, je mehr Demokratie man hat, umso mehr oligarchische Organisationsformierungen braucht, um die Anzahl der legitim vertretenen Menschen zu erfassen und effektiv ihre Wünsche zur Geltung zu bringen.

»Wir in den USA sind auf dem Weg zu einer Autokratie.«

Und gilt das auch für die Autokratie?
Autokratie ist etwas ganz anderes. Das ist das Gegenteil einer liberalen Demokratie. Autokratie ist ein Inhalt, während Oligarchie ein Modus ist. Und wir in den USA sind auf dem Weg zu einer Autokratie. Ich hätte niemals gedacht, dass ich Zeuge einer Entwicklung würde, die dabei ist, 249  Jahre Demokratie – egal mit welch eklatanten Fehlern und Mängeln – systematisch zu demontieren. Ich bin noch immer sicher, dass es letztlich zu keiner vollen Autokratie, geschweige denn zu einem vollen Faschismus, bei uns kommen wird, aber der bereits beschrittene Weg ist übel genug.

In Deutschland wird kontrovers diskutiert, ob man Trump als Faschisten bezeichnen kann, wie es etwa der US-amerikanische Philosoph Jason Stanley tut. Laut Stanley befinden sich die USA in einer schon sehr weit fortgeschrittenen »faschistischen Dynamik«. Er sagt: »Die Kultur der Lüge, die Dämonisierung von Gegnern, das Verbot von Komplexität, die Rückkehr der völkischen Rhetorik, der Angriff auf autonome Institutionen – all das ist da.« Wie sehen Sie diese Diskussion?
Stanley hat vollkommen recht mit seiner Feststellung. Ich würde Donald Trumps Werte als total faschistisch bezeichnen. Er liebt nur Stärke, hasst Schwäche, ergötzt sich an Macht, liebt das Pompöse, ist rachsüchtig, fordert von allen Beamten und Untergebenen 100prozentige Loyalität, Abweichung wird streng bestraft. Durch und durch ein Diktator von Kopf bis Fuß. Wenn man sich die Unterwürfigkeit seiner Kabinettsmitglieder in ihrer Lobhudelei auf Trump anhört, wird einem schlecht oder man bekommt zwangsläufig einen Lachkrampf. Dass das heutige Phänomen Trumpismus faschistisch ist, möchte ich bezweifeln, da es noch wichtige oppositionelle Einrichtungen und Bewegungen gibt. Aber dass Trump in seinem Idealfall ein System haben wollte, dass faschistisch wäre, ist ohne Zweifel richtig.

Auf was muss sich der zur WM in die USA einreisende Fan einstellen?
Das weiß ich nicht. Ich bin mir aber sicher, dass die Fans europäischer Mannschaften keine großen Sorgen haben müssen, in die USA zu fahren und sich hier wohlzufühlen.

Oliver Bierhoff, ehemaliger Manager der deutschen Nationalelf, sagte, Trump werde »die großen internationalen Sportbühnen, auf die die ganze Welt schauen wird, für die USA und sich persönlich nutzen wollen. Insofern sind das gute Voraussetzungen für die Großevents.« Dieser Logik folgend sind größenwahnsinnige Staatsmänner ideale Veranstalter von großen Sportevents. Der Fifa-Präsident Gianni Infantino ist begeisterter Trumpist. Gibt es so etwas wie eine Seelenverwandtschaft zwischen Funktionären großer Sportorganisationen und Autokraten? Schließlich hat Infantino etwas geschafft, wovon Trump träumt: jegliche Opposition gefügig zu machen.
Siehe meine Ausführungen zu Oligarchie. Ich hatte keine Ahnung, dass Oliver Bierhoff Trump begrüßt, aber es wundert mich überhaupt nicht. Und es wundert mich auch nicht, dass Infantino ein Trump-Anhänger ist. Leiter solcher Organisationen – Oligarchen eben, per definitionem – lieben Seelenverwandte, die auch gerne so ungehindert wie nur möglich regieren wollen.
Man will als CEO egal welcher großen Organisation so wenig Opposition wie nur möglich haben und seine Macht so willkürlich ausüben wie irgend machbar. Das ist eben die Logik jeglicher oligarchischen Struktur. Da muss man kein besonders übler Mensch sein, da muss man keine faschistischen Werte der Machtgeilheit und des Anhimmelns von Stärke haben, man muss kein schlechter Mensch sein, um Affinitäten mit anderen Organisationsmächtigen zu haben.
Man sollte vorsichtig sein mit Vergleichen und der Unterstellung, die Fifa und das IOC förderten den Faschismus. Die Verbände wollen einen möglichst problemlosen Ablauf ihrer Show haben, mit null Gegenstimmen, mit null Einwänden, mit null Problemen. Das garantieren eben Diktaturen wie Russland und Katar und Nazi-Deutschland besser und leichter als liberale Demokratien. Aber das heißt nicht, dass das IOC und die Fifa faschistisch sind. Wenn Kamala Harris Präsidentin wäre, wäre Infantino genauso happy und darauf bedacht, eine großartige Show abzuziehen. Diese Organisationen brauchen Ordnung und so wenig Widersetzlichkeit wie nur möglich. Das macht sie per definitionem autoritär, aber nicht faschistisch.

»Trump und die politische Lage sind auch ohne solche Analogien und Vergleiche schlimm genug.«

Trump ist nicht Hitler – trotzdem werden hier Vergleiche mit den Olympischen Spielen von 1936 gezogen: ein sportliches Event als politische Propagandashow. Wie legitim ist ein solcher Vergleich?
Bitte, bitte aufhören mit den dauernden Hitler-Vergleichen und mit den Analogien zu den Olympischen Spielen 1936! Ob Fußball-, Cricket-, Rugby-WM oder Olympische Spiele – alle sind Propagandaveranstaltungen. Die Fußball-WM 2026 würde genauso geplant, alles würde genauso gebaut werden, wenn Kamala Harris ins Weiße Haus eingezogen wäre. Trump und die politische Lage sind auch ohne solche Analogien und Vergleiche schlimm genug.

Für Trump ist der Sport eine Arena, um auch dort den Kulturkampf auszutragen. Trump ist kein Fußballfan, er scheint mit dem Spiel eher zu fremdeln. In welchem Ausmaß lässt sich der europäische beziehungsweise südamerikanische Fußball, der soccer, in den Trump’schen Kulturkampf einbetten? Oder ist es egal, welches Spiel es ist?
Das ist eine sehr interessante Frage, zu der ich Folgendes sehr hypothetisch sagen möchte: Da Trump der Volkstribun der Joe Six-Packs ist, also der ihn anhimmelnden männlichen weißen Arbeiter, die soccer als »sissy sport« ebenso verachten wie Frauen und Schwule und Fremde, sollte man meinen, dass Trump da einen Leckerbissen in seinem Kulturkampf gegen Eliten und Kosmopoliten und eben gegen alle, die er verachtet und hasst, auf einem silbernen Tablett geliefert bekommt. Aber Trump ist auch ein absolut brillanter showman und er weiß, oder besser gesagt spürt, welch eine Show die Fußball-WM ist. Die will er nicht runtermachen, weil er weiß, dass er dies nicht kann.
Deswegen glaube ich nicht, dass er den europäischen Fußball gegen die für ihn einzig echten Sportarten American Football, Basketball, Baseball und Eishockey in Stellung bringen wird. Und sein Machotum hat er für Joe Six-Pack schon zur Genüge mit seiner Liebe zum Kampfsport Mixed Martial Arts und zum Wrestling-Verband WWE demonstriert, indem er bei diesem sogar in den Ring stieg und bei jenem des Öfteren im Publikum erschien, auch als er schon Präsident war. Mit Linda McMahon, der Mitbesitzerin und Gründerin der WWE, sitzt sogar eine wichtige Repräsentantin dieser Branche als Bildungsministerin in seinem Kabinett.

»Der Sport ist für mich mein einziger Ort der Rettung vor diesem Irrsinn geworden, den Trump uns tagtäglich vorführt. Ich schaue nur ESPN, habe mich total in der Welt der NBA, der MLB, der NHL verkrochen und finde da Muße, Ruhe, Freude und auch gleichgesinn­te Freunde.«

Die USA sind nicht alleiniger Ausrichter des Turniers, auch wenn Trump manchmal so tut. Welchen Einfluss wird die Entwicklung des Verhältnisses der USA zu Mexiko und Kanada auf das Turnier nehmen?
Ich glaube nicht, dass es zu irgendwelchen spürbaren negativen Maßnahmen gegen Kanada und Mexiko während des Turniers kommen wird. Da gab es nichts während des Finales des nord- und zentralamerikanischen Fifa-Kontinentalverbandes Concacaf vor ein paar Wochen in Los Angeles und es gab auch nichts bei Turnier »4 Nations Face-Off« der National Hockey League davor, außer dem Ausbuhen der US-amerikanischen Hymne in Montreal beim Spiel Kanada gegen USA. Drei Tage später in Boston wurde dann beim Retourspiel die kanadische Hymne ausgebuht, aber in geringerer Lautstärke als davor in Montreal.

Nehmen wir an, Sie müssten den DFB im Umgang mit Trump, der gegenwärtigen Entwicklung in den USA, dem Turnier beraten – was würden Sie dem Verband empfehlen?
Die Frage ist ja wohl ein Witz. Ich bräuchte allein zwei Stunden, um in die gegenwärtige Lage in den USA einzuführen, geschweige denn Näheres zu erklären. Und sie hat auch für den DFB null Bedeutung. Auch Trump hat für den DFB keine Bedeutung, sorry. Wie gesagt: Der DFB würde – oder sollte – sich genauso verhalten, als wäre Harris Präsidentin. Es kommen deutsche Fußballer zu dem wichtigsten Turnier ihres Metiers, das dieses Mal zufällig auch in den USA ausgetragen wird. Es sind nicht deutsche Sozialwissenschaftler, die zu einer Tagung oder zur Erforschung der Politik der USA hierherkommen.

Gibt es angesichts der Erwartung, dass Trump die WM für seine Maga-Propaganda nutzen will, für den fußballbegeisterten US-Bürger Andy Markovits überhaupt noch Raum für Freude auf das Turnier?
Voll und ganz! Das sind absolut zwei Paar Schuhe, um beim Thema Fuß zu bleiben. Im Gegenteil: Der Sport ist für mich mein einziger Ort der Rettung vor diesem Irrsinn geworden, den Trump uns tagtäglich vorführt. Ich schaue nur ESPN (US-amerikanischer Sportsender; Anm. d. Red.), habe mich total in der Welt der NBA, der MLB, der NHL (nordamerikanischer Basketball-, Baseball- bzw. Eishockeyverband; Anm. d. Red.) verkrochen und finde da Muße, Ruhe, Freude und auch gleichgesinn­te Freunde. Die Premier League (Erste englische Fußballliga, Anm. d. Red.) würde mir auch noch so einen Zufluchtsort gönnen, hätte mein geliebtes Manchester United nicht so erbärmlich gespielt. Ich freue mich auf die Fußball-WM 2026, die wohl eine der allerletzten meines Lebens sein wird und der ich, wie schon ihren Vorgängern 1966, 1974, 1982, 1990, 1994 und 2006 auch im Stadion beiwohnen werde.

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Andrei Steven Markovits mit Mikrofon

Andrei S. Markovits

Bild:
Wikipedia / Heinrich-Böll-Stiftung - Flickr / CC BY-SA 2.0

Andrei Steven Markovits, Politikwissenschaftler und Soziologe, wurde 1948 in Timișoara, Rumänien, geboren. Im Alter von neun Jahren zog er mit seinem Vater nach Wien. Regelmäßig besuchte er New York City, bis er schließlich nach dem Schulabschluss dorthin auswanderte. Er studierte an der New Yorker Columbia-Universität. Bis 1999 war er Professor an der University of Michigan in Ann Arbor und anschließend Karl W. Deutsch Collegiate Professor of Comparative Politics and German Studies ebendort. 2022 veröffentlichte er seine Autobiographie: »Der Pass mein Zuhause: Auf­gefangen in Wurzellosigkeit«.

Das Interview wurde ursprünglich für »Fairness United« (www.fairness-united.org) geführt, einen Verein, der sich für Menschenrechte im Fußball einsetzt.