15.05.2025
Der Unterschied zwischen bloßen Ressentiments gegen Wokeness und ernst­zunehmender Kritik an ihr

Nicht mehr »en woke«

Was einst als Kritik an Irrationalität und Wahn antrat, hat sich längst zum Zerrbild des kritisierten Gegenstands entwickelt. Antiwokeness ist unter Donald Trump und Wladimir Putin zum Regierungsprogramm erhoben worden und schreitet in ihrer Zensurwut deutlich schlagkräftiger und besorgniserregender voran, als es die woke Gesinnungspolizei bisher vermocht hatte. Es ist an der Zeit, dass die Kritik diese Veränderung miteinbezieht.

Woke zu sein, ist seit einigen Jahren das geflügelte Wort dafür, sich vermeintlich diskriminierungssensibel und konform mit den Sprach- und Verhaltenscodes des Intersektionalismus zu verhalten. Nicht selten haben damit einhergehende engstirnige bis inquisitorische Praktiken linke Debatten autoritär verengt und emotionalisiert, bisweilen regelrecht zensiert. Das haben rechte Kulturkämpfer aufgegriffen und reaktionäre Positionen mit dem Argument aufgewertet, dass sie wenigstens nicht woke seien. Der russische Despot Wladimir Putin und der US-amerikanischen Präsident Donald Trump bedienen sich dieser Entwicklung. Ist das Anlass, die Kritik an der Wokeness zu überdenken?

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Im Jahr 2017 sendete die US-amerikanische Show »Saturday Night Live« einen Sketch, der eine fiktive Werbung für eine Jeans der Marke Levi’s darstellte. »Levi’s Wokes« heißt die hier von den Komikerinnen und Komikern beworbene Hose, die »gender-nonconforming« ist, keine Taschen (denn nicht jeder Mensch hat Hände) und keine klar definierte Farbe hat (denn das Wort »color« triggert den Gaststar des Sketchs, den Schauspieler Ryan Gosling), die nicht in verschiedenen Größen gefertigt wird, sondern nur in einer Universalgröße, um niemanden auszuschließen, kurz: eine Hose, die absolut unpraktisch und dazu noch hässlich ist. Dafür ist sie das, worauf es wirklich ankommt: woke.

Der Sketch, der selbst für »SNL«-Verhältnisse gewagt war, analysiert nicht nur hervorragend die unangenehme Beflissenheit von Aktivisten, aus Banalitäten wie einem Kleidungsstück einen Gradmesser für Progressivität zu machen, sondern entblößte gleichzeitig auch die Unmöglichkeit eines ethischen Konsums im Sinne der Wokeness, der letztlich mehr auf eine Marketingstrategie hinauszulaufen scheint als auf ein Ende von Ausbeutung: Die Hose würde, so heißt es im Sketch, nicht etwa von Kinderarbeitern in irgendeinem ostasiatischen Land hergestellt, sondern in den USA – »von weißen Kids«. Wirklich jeder Person, die noch meint, es gäbe so was wie ethischen Konsum, wird mit dieser völlig absurden Aussage der Gedanke vergällt, man könne sich bei einer Kaufentscheidung auch nur irgendwie moralisch korrekt verhalten.

Bald begannen die großen Zeitungen, sich für das Buch »Beißreflexe« über queeren Aktivismus und autoritäre Sehnsüchte zu interessieren – und sich allein daran zu ergötzen, dass sich Linke miteinander stritten.

Im selben Jahr erschien in Deutschland ein Sammelband, der für Furore sorgte: Die Kritik an der Wokeness, die der Sammelband »Beißreflexe« 2017 avant la lettre formulierte, war als eine innerlinke Kritik gedacht, die eine Debatte auslösen wollte über theoretische Prämissen, Aktionsformen und nicht zuletzt über die ruppigen Umgangsformen, die man untereinander pflegte. Doch schon sehr bald begannen die großen Zeitungen, sich für das Buch über queeren Aktivismus, autoritäre Sehnsüchte und Sprechverbote zu interessieren – und sich allein daran zu ergötzen, dass sich Linke miteinander stritten.

Und so kam es dazu – auch weil diejenigen, die eigentlich angesprochen waren, eine Debatte rigoros ablehnten –, dass man plötzlich in der Zeit, in der Welt, in der FAZ oder in Bild empörte Texte über Wokeness von empörten Journalisten lesen konnte, die in ihrem Leben noch nie irgendetwas mit linker Subkultur zu tun gehabt hatten. So wurde aus der vernünftigen Kritik eine hämische – und eine flache, die sich meist nur mit Äußerlichkeiten befasste und dabei auch immer wieder durchschimmern ließ, dass das mit der Diskriminierung doch eigentlich gar nicht so schlimm sei.

Es bleibt dabei: Die Wokeness, die Identitätspolitik, ist falsch und zu kritisieren, aber nicht weil sie sich gegen Diskriminierung einsetzt oder weil ihre Vertreter für den bürgerlichen Beobachter irgendwie wirr und skurril erscheinen. Wokeness ist abzulehnen, weil ihre Fürsprecher einen autoritären Tribalismus pflegen, sich sektenartig organisieren, weil ihr Denken voluntaristisch und faul ist, weil sie Obskurantismus und Irrationalismus, Religion und Esoterik zu alternativem »Wissen« hochjazzt, weil sie die »eigene« Erfahrung als einzigen Maßstab setzt und sich damit rigoros gegen jede Alteritätserfahrung panzert, weil sie öde, langweilig und banal, am Ende schlicht reaktionär und antipolitisch ist, und weil sie eine soziale Technik ist, um Macht auszuüben – vor allem über jene, die selbst Diskriminierung ausgesetzt sind.

Queers for Palestine nur »verirrte Linke«?

Spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist bei immer mehr Leuten der Groschen gefallen, dass die Kritik an Wokeness, deren Vertreter von da an in ihrer überwiegenden Mehrheit Sympathien für die islamistische Terrororganisation bekundeten, doch nicht so falsch gewesen sein konnte. Beispielsweise bei Jens Balzer, der sich in seinem vielbeachteten Bändchen »After Woke« dann aber doch überraschend handzahm gibt und dabei – oder dadurch – den Kern des Ganzen nicht wahrhaben will: Balzer zufolge habe sich das intellektuelle Milieu nach dem 7. Oktober in antisemitische Stereotype »verrannt«, die Queers for Palestine seien »verirrte Linke«, man müsse gegen diese Leute die »Utopie einer richtig verstandenen Wokeness verteidigen«.

Sind das wirklich verwirrte Leute? Nein, die meinen das ernst mit ihrem Antisemitismus: Balzer verharmlost mehr oder weniger die Ideologie der Israelhasser und verniedlicht sie als verwirrt, um doch noch etwas an der Wokeness retten zu können. Es scheint so, als müsse man zunächst Sympathie bekunden, um es sich dann herausnehmen zu dürfen, auch etwas Kritisches zu sagen, so auch in Jan Feddersens und Philipp Gesslers 2021 erschienenem Buch »Kampf der Identitäten«, in dem sie ein »kritisches Panorama der Identitätspolitik« entfalten wollen, dem ganzen aber den Satz voranstellen: »Wir halten den Begriff ›Identitätspolitik‹ weiter für sinnvoll und nützlich.«

Im antiisraelischen Milieu sieht man das übrigens gar nicht mehr unbedingt so: Zwar hält man teilweise an Versatzstücken der Identitätspolitik fest, die ständig vorgetragenen Gewaltphantasien gegen Juden und ihren Staat vertragen sich allerdings auf Dauer nicht mehr mit der ostentativ zur Schau gestellten Sensibilität der Wokeness, und so hat es der Antisemitismus mal wieder geschafft, alle Widersprüche zu überwinden und zwischen Kultursensiblen, Steinzeitmarxisten und Pseudorevoluzzern ein starkes Band zu knüpfen, bei dem die Wokeness hinten runterfiel. Leninistischen Straßenkämpfern von Gruppen wie Young Struggle braucht man mit Triggerwarnungen und safe spaces gar nicht erst zu kommen.

Julie Burchill und der Brexit

Julie Burchill kann damit auch nichts anfangen, aber aus anderen, nicht so autoritären Gründen: Die englische Journalistin schrieb über Punk, lesbische Teenagerinnen und die englische Arbeiterklasse und ist bekannt für ihr Vergnügen daran, Kontroversen zu provozieren – wer kann es ihr verübeln? Doch was die Wokeness angeht, ist ihr Engagement mittlerweile fast schon besorgniserregend: In ihrem 2021 zuerst in Großbritannien erschienenen Buch »Willkommen bei den Woke-Tribunalen« ist ihr keine noch so degoutante Formulierung zu blöd, um Wokeness zu charakterisieren. Statt radikale Kritik zu üben, raunt sie über die »gut finanzierte Trans-Lobby«, nennt die Aktivisten »Generation Bettnässer« oder »hirnlosen Pöbel« und klingt selbst äußerst identitätspolitisch, wenn sie die »arbeitenden Männer« über den grünen Klee lobt.

Burchill hat den »Brexit« befürwortet, schlussendlich aus dem simplen Grund, dass die Liberalen und die Woken dagegen sind – und Teile der Arbeiterschaft dafür. Dass der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU sehr zwieschlächtige Konsequenzen vor allem für eben jene Arbeiter hatte – die nunmehr bessere Position auf dem Arbeitsmarkt wird unterminiert von stark steigenden Lebenshaltungskosten, Reallohnverlusten und Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen –, spielte für Burchill und ihren Kulturkampf keine Rolle, lieber arbeitete sie sich an allerlei von der Wokeness inspirierten Vorfällen an englischen Universitäten ab, die sie für ihr Buch akribisch recherchierte – gefühlt sind es Hunderte.

Burchill berauscht sich an den Geschichten – noch trauriger als die Wokeness selbst ist es, so muss man nach der Lektüre schlussfolgern, wenn man sich wie Burchill obsessiv an ihr abarbeitet. Denn eine stichhaltige Analyse des Phänomens ergibt sich daraus nicht automatisch, vielmehr erweckt es den Eindruck einer am Ende gänzlich unpolitischen Enerviertheit.

Tausende Bücher aus Schulen verbannt

Dieses Gefühl des Genervtseins, das sich in den vergangenen Jahren bei vielen Menschen breitgemacht hat, lässt sich politisch wiederum sehr gut nutzen – zum Beispiel von US-Präsident Donald Trump, seiner Regierung und Mitgliedern seiner Partei. Doch die Wokeness anzuprangern, dient hier lediglich als Feigenblatt dafür, durch und durch reaktionäre Politik durchzusetzen: Richterinnen und Richter, die Trumps Dekrete außer Kraft setzen, weil sie der Verfassung der Vereinigten Staaten widersprechen, also schlicht und ergreifend ihre Arbeit tun, werden als »activist judges« diffamiert, transsexuelle Soldaten werden in einer executive order als nicht ebenso »ehrenhaft, aufrichtig und diszipliniert« bezeichnet wie ihre Kollegen im Militär, ihren Ausschluss aus der Armee bereitet Trump derzeit vor.

Seit 2021, so sagt es der Autorenverband Pen America, sind 16.000 Bücher aus Schulen verbannt worden, im April dieses Jahres wurden allein 400 aus der Marineakademie der Vereinigten Staaten aussortiert, Verteidigungsminister Pete Hegseth hatte dies in die Wege geleitet. Verschwunden sind unter anderem die Autobiographie der Bürgerrechtlerin und Vertrauten Martin Luther Kings, Maya Angelou, und eine feministische Studie über die Erinnerung an weibliche Holocaustopfer der Akademikerin Janet Jacobs.

Die Antiwoken nähern sich mit dieser Säuberungspraxis nicht nur der Form nach den Woken an, sie übertreffen diese sogar, denn so oft auch in den vergangenen Jahren in haarsträubender Manier identitätspolitisch über Bücher diskutiert wurde, aus Bibliotheken verbannt wurden sie daraufhin selten – das erledigt nun im großen Stil die Rechte.

Auch für rechte Unternehmer lohnt es sich, sich den Genervten anzudienen: »Freedom2o« heißt eine Wassermarke, die 2024 als »anti-woke water« vermarktet wurde. »Es ist nicht nur erfrischend, es ist rebellisch«, verkündete Firmengründerin Elizabeth White. Ganz normales Wasser, der Preis: etwa drei Dollar und 50 Cent pro Liter.

Antiwoker Nonkonformismus

Während sich die einen beim Wassertrinken rebellisch fühlen, gefallen sich andere in ihrem antiwoken Nonkonformismus: Bei einer Kundgebung zum Frauentag im vergangenen März hielt die feministische Autorin Hannah Kassimi in Halle eine Rede, in der sie den in Deutschland herrschenden Antiamerikanismus zu Recht anprangerte, um dann aber Charakterisierungen Donald Trumps in der deutschen Presse, nämlich dass er »autokratische Züge« trage und »autoritäre Instinkte« habe, zum Teil als eben antiamerikanisch zu denunzieren – obwohl diese Charakterisierungen faktisch durchaus zutreffen. Während sie an die Wokeness die höchsten Maßstäbe anlegt, fasst sie den Trumpismus in ihrer Rede mit Samthandschuhen an.

Dass Trump mit dem Versprechen Wahlkampf gemacht hat, den trans-aktivistisch inspirierten Geschlechtsvoluntarismus zurückzudrängen (und das mit dem Dekret 14.168 dann auch tat), ist nach Kassimis Ansicht »mitnichten einfach als Regress zu werten«, sondern eine Antwort auf vermeintlich progressiven Aktivismus, dem der Schutz von Frauen egal sei. Zwar betont sie, dass Trump »freilich kein Feminist« sei, doch sein Wahlsieg könne trotzdem »als Chance für eine Rück­besinnung auf einen Feminismus genutzt werden«, der nicht queerfeministisch sei.

Eine List der Vernunft also; doch warum sollte man überhaupt jemanden wie Trump brauchen – dessen politisches Geschäftsmodell darauf beruht, Ressentiments (übrigens gegen tendenziell alles und jeden) zu mobilisieren –, um zum Feminismus zu finden? Die relevante Kritik an Queer- und Trans-Aktivismus – die man in Trumps Tiraden übrigens vergeblich suchen wird – kann man ganz wunderbar vorbringen, ohne dabei plumpeste Vor­urteile zu bedienen.

Allianz zwischen Linken und Islamisten hat Konjunktur

Am Ende verhält es sich hier ähnlich wie bei Burchill: Kassimi stört, dass die »Litanei« über Trump, er sei Frauenfeind, Rassist und behindertenfeindlich, »gebetsmühlenartig« wiederholt werde – klar, das kann nerven, aber nur weil es nervt, ist es nicht automatisch falsch. Aber weil es nervt, hat man anscheinend keine Lust mehr, den Wahrheitsgehalt überhaupt noch zu prüfen – und gibt sich damit im Endeffekt geschlagen.

Der französischer Philosoph Pierre-André Taguieff ist ein Experte für den französischen Rechtsextremismus, ein früher Kritiker der politischen Strömung des Antirassismus und hat die Bezeichnung »islamo-gauchisme« geprägt, die treffend die unheimliche und derzeit wieder Konjunktur habende Allianz zwischen Linken und Islamisten beschreibt.

Der »staatliche Antiwokismus« sei »ebenso intolerant wie sein ausgewiesener ideologischer Feind«, beide würden in »Fanatismus« abgleiten, schreibt Pierre-André Taguieff.

Er ließ kürzlich in der französischen Wochenzeitung L’Express die Wokeness Revue passieren: Sie verkörpere »einen neuen ideologischen Konformismus und einen Geist der Zensur«, doch mit dem Antiwokismus sei eine ebenfalls »neue Bedrohung« aufgetaucht, denn Trump und auch Wladimir Putin nutzten diesen als »Propagandainstrument«, um »zu einer verherrlichten Vergangenheit zurückzukehren, eine verlorene oder verfälschte Tradition wiederzubeleben oder in ihrer Reinheit und Größe wiederherzustellen«. Der »staatliche Antiwokismus« sei »ebenso intolerant wie sein ausgewiesener ideologischer Feind«, beide glitten in »Fanatismus« ab. Für Taguieff ist es selbstverständlich, die Wokeness »mit den Waffen des Wissens und der Intelligenz« zu bekämpfen, »ohne in Trumpismus oder Putinismus zu verfallen«.

Dem ließe sich noch hinzufügen, dass die Antwort auf lähmende Debatten über Wokeness darin bestehen muss, unabhängig zu bleiben. Sich nicht vom neuesten rant, vom frischesten hot take verrückt machen zu lassen, nicht der peer group um jeden Preis gefallen zu wollen, nicht dauernd zu denken, nur die krasseste Aussage sei legitim. Den Anhängern und Sympathisanten der Identitätspolitik stünde es gut an, endlich damit aufzuhören, so zu tun, als sei die Wokeness die einzige Möglichkeit des emanzipatorischen Denkens und Handelns – ein kurzer Blick in die Geschichte straft diesen Gedanken nämlich Lügen.

Und vor allem wäre es an der Zeit, sich in der innerlinken Kritik auch wieder dem zu widmen, was in den vergangenen Jahren im Schatten der Wokeness gedeihen konnte, durch sie aus den Augen verloren wurde und derzeit viel mehr Zuspruch erfährt als eben die Wokeness: allerlei reaktionäres Volk, nämlich Leninisten, Stalinisten, Maoisten, Antiimperialisten und Linksislamisten.