»Ich halte Distanz zu Ideologien«
Sie arbeiten derzeit am Drehbuch für Ihren vielleicht letzten großen Film. Wie läuft es?
Seit rund zehn Jahren träume ich von einem Film, den ich noch machen möchte: »Nocturno«. Die Filmhandlung wird im Kuba des Jahres 1961 beginnen und 2025 enden. Ich will Einblick geben, Licht und Schatten der vergangenen mehr als 60 Jahre aufzeigen, die ich in Kuba erlebt habe. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, denn ich komme mit dem Drehbuch nur langsam voran. Manchmal bin ich inspiriert und manchmal nicht. Das macht mir Schwierigkeiten. Und dass ich so langsam mit dem Drehbuch vorankomme, passiert mir nicht zum ersten Mal – es ist ein schwieriger Prozess für mich.
Sie haben etliche Filme gedreht, darunter 1983 den Dokumentarfilm »Omara« über die Sängerin Omara Portuondo, der im Zentrum Havannas spielt. Ihr letzter Film, »Die Welt von Nelsito« von 2022, spielt in einem Haus in der Altstadt Habana Vieja. Leben Sie selbst in der Nähe Ihrer Drehorte?
In gewisser Weise. Ich selbst bewege mich in den einfachen, prekären Stadtteilen Havannas, lebe dort, wo Cerro auf Centro de Habana trifft – ziemlich genau auf der Grenze dieser beiden Stadtteile. Ich habe mein ganzes Leben in Havanna verbracht, bin im Stadtbezirk Guanabacoa in einer einfachen Familie aufgewachsen.
»Ich versuche, die Zuschauer mit den unterschiedlichen Realitäten der kubanischen Bevölkerung vertraut zu machen.«
Wie hat das Ihre Filme beeinflusst?
Wir waren nicht arm, mussten aber auf den Peso achten – eine Privatschule für mich und meine Schwester war nicht drin. Mein Vater war Briefträger, meine Mutter nähte, um etwas dazuzuverdienen, und bot es auf der Straße an. Meine Kindheit hat dafür gesorgt, dass ich ein bodenständiger Typ bin.
Ich mache Kino, werde bezahlt, nicht sehr gut, aber auch nicht schlecht. Ich führe das gleiche Alltagsleben wie das Gros der kubanischen Bevölkerung, stehe wie alle anderen Schlange, muss mir wie alle anderen auch die Lebensmittel zusammensuchen. Ich erlebe alles das, was in »Die Welt von Nelsito« anklingt.
Allerdings versuche ich, die Zuschauer darin mit den unterschiedlichen Realitäten der Bevölkerung vertraut zu machen: mit denen der Ärmsten in Kuba, die sich unter misslichen Bedingungen durchschlagen, genauso wie mit denen der Vermögenden, die sich fast alles leisten können. Das ist eine der Intentionen des Films.
War es schwierig, »Die Welt von Nelsito« zu drehen?
Ja, denn die Dreharbeiten begannen zum Auftakt der Covid-19-Pandemie. Sie waren auf drei, vier Monate angelegt. Das haben wir natürlich nicht geschafft. Wir mussten umstellen, improvisieren. Aber es hat trotzdem viel Spaß gemacht, weil ich ein junges, engagiertes Team hatte.
Von denen haben mittlerweile viele Kuba verlassen. Hat die Jugend die Hoffnung auf einen Wandel in Kuba verloren?
Die Brüche innerhalb der Jugend sind sehr tief und viele akzeptieren die offiziellen Darstellungen nicht, die nicht oder zu wenig auf die Lage auf der Insel eingehen. Von dem Team, mit dem ich »Die Welt von Nelsito« gedreht habe, waren ein halbes Jahr später mindestens zwölf im Ausland. Das tut weh, denn darunter sind sehr talentierte Menschen, die in Kuba ausgebildet wurden. Sie haben natürlich dazu beigetragen, der Gesellschaft mit ihren Ideen Dynamik zu verleihen. Die fehlt uns, denn es sind die Jüngeren, die für Veränderung sorgen, das ist weltweit so. Sie kämpfen und engagieren sich für Veränderung.
Ein erster Schritt hin zu Veränderungen können Austausch und Teilhabe sein. Fehlt es in Kuba am Dialog?
Derzeit ja. Dazu passt, dass es 2023 einen neuerlichen Fall von Zensur im kubanischen Kino gab. Da wurde die Vorführung des Dokumentarfilms »La Habana de Fito« von Juan Pin Vilar über den argentinischen Sänger Fito Páez erst vom Kulturministerium abgesagt und dann in einer vom Regisseur unerwünschten Version mit Anmerkungen gezeigt. Das hat Proteste in der Filmszene hervorgerufen. Die freie Meinungsäußerung brauchen Kultur und Gesellschaft aber wie den Sauerstoff, um zu existieren. Als eine Reaktion auf die Repressalien entstand, initiiert von einer neuen Generation der Filmemacher, die Asamblea de Cineastas Cubanos.
»Kultur und Gesellschaft brauchen die freie Meinungsäußerung wie den Sauerstoff, um zu existieren.«
… eine Bewegung unabhängiger, kritischer kubanischer Filmschaffender, der Sie angehören.
Die Organisation ist offiziell nicht anerkannt, aber sie tritt für freie Meinungsäußerung ein. In der Auseinandersetzung darum stecken wir nach wie vor; sie hat noch immer nicht zu einem konstruktiven Dialog mit der Regierung geführt. Ich sehe derzeit keine Hinweise der staatlichen Institutionen, die in diese Richtung deuten. Dafür gibt es aus meiner Perspektive zwei Gründe: Kernforderungen von unserer Seite sind ein Ende der Zensur und die Teilhabe aller Filmemacher – auf der Insel und im Exil. Aus meiner Perspektive sind es diese beiden Punkte, die für die offiziellen Institutionen schwer zu akzeptieren sind. Für uns sind sie essentiell.
Sie haben im Juli 2024 gemeinsam mit rund 200 Künstler:innen eine Solidaritätsbekundung mit den regierungskritischen Historikerinnen und Publizistinnen Alina Bárbara López und Jenny Pantoja unterzeichnet, denen nach Demonstrationen langjährige Haftstrafen drohen. Warum?
Ich kenne weder Alina noch ihre Kollegin persönlich, aber ich kenne ihre Idee, habe einiges von ihr gelesen, als sie noch die Arbeit der Redaktion der kubanischen Analyse- und Diskussionsplattform La Joven Cuba koordinierte. Mir hat ihr detaillierter Blick auf die Realität sehr gefallen. Für mich ist sie eine unserer profunden Denkerinnen der Gegenwart. Sie hat Widersprüche der kubanischen Regierung treffend aufgezeigt, sie ist aktiv geworden, ist eingetreten für das, was sie denkt. Das ist sehr konsequent und wird immer meine Unterstützung haben.
Sie nahmen auch an einer anderen Initiative aus der Filmszene teil, der G-20, und an den Protesten am 27. November 2020 von Künstler:innen vor dem Kulturministerium.
Die G-20 war eine Initiative zum Dialog, um verbindliche Vorgaben für das Kino und die Produktionen zu vereinbaren, der 27. November eine Protestaktion gegen die Repression. Zwei sehr unterschiedliche Dinge, und bei beiden war ich dabei.
Am 27. November gab es dann tatsächlich ein Gespräch der Demonstrant:innen mit dem damaligen Vizekulturminister Fernando Rojas. Worum ging es dabei?
Es war ein Gespräch, moderiert von Rojas, in dem junge Künstler:innen und Intellektuelle ihrer Analyse der Verhältnisse darlegten, sich gegen Repression und Zensur verwahrten und klare Forderungen auf den Tisch legten. Das war fundiert und hätte der Auftakt zu weiterem Dialog sein können, nein, sein müssen.
»Ich bin ein Mann der sechziger Jahre, wurde im Kuba der Revolution sozialisiert. Seitdem hat sich die Welt verändert.«
Was wurde daraus?
Es gab zwar die Zusage, einen Prozess der Auseinandersetzung zu initiieren, aber am nächsten Tag beim Fernsehauftritt des Kulturministers Alpidio Alonso war davon nicht mehr die Rede. Es wurden Fotos von jungen, kritischen Künstler:innen präsentiert, sie wurden stigmatisiert – man hat die Türen geschlossen.
War das ein Wendepunkt?
Ja, zweifelsohne. Viele, sicherlich die Mehrheit der 32 Personen, die an diesem Gespräch teilnahmen, leben mittlerweile im Exil, sind gegangen, weil sie keine Chance auf einen Wandel sahen. Die Zahl der Menschen, die diese Sicht der Dinge teilen, steigt. Kuba hat ein riesiges Emigrationsproblem.
Mehr als eine Million Menschen haben Kuba seit dem November 2021 verlassen, aufgrund der schlechten ökonomischen Perspektive oder weil sie nach Protesten verfolgt wurden. Sehen Sie den politischen Willen für Veränderung?
Es mag ihn geben, aber mir ist er noch nicht begegnet, weder in der Praxis noch in den Reden der Verantwortlichen.
Sie achten darauf, trotz aller Kritik nicht als Oppositioneller angesehen zu werden. Wie erhalten Sie sich ihre Glaubwürdigkeit?
Ich versuche, mir treu zu bleiben, halte Distanz zu Parteien und Organisationen. Das ist nicht einfach und kostet Kraft. Ich bin ein Mann der sechziger Jahre, wurde im Kuba der Revolution sozialisiert. Seitdem hat sich die Welt verändert. Ich denke anders, aber nach wie vor halte ich mich an meinen alten Idealen wie einer gerechten Welt fest. Die wird immer ungerechter, von immer mehr Egoisten mit Doppelmoral geprägt. Ich halte Distanz zu Ideologien, denn sie mutieren fast immer zu Doktrin und Fanatismus.
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Fernando Pérez Valdés, geboren 1944, ist einer der bedeutendsten kubanischen Filmregisseure. Er begann seine Karriere 1962 als Produktionsassistent und Übersetzer beim kubanischen Filminstitut ICAIC. Nach seinem Sprach- und Literaturstudium an der Universität von Havanna arbeitete er als Regieassistent und drehte zwischen 1974 und 1984 etliche Dokumentarfilme. Sein erster Spielfilm, »Gefährliches Leben« (im Original: »Clandestinos«), erschien 1987 und markierte den Beginn seiner internationalen Anerkennung. Zu seinen bekanntesten Werken zählt »Suite Havanna« (2003), das als Meilenstein des kubanischen Kinos gilt. Pérez war auch als Professor für Filmgeschichte tätig und hatte Gastprofessuren in Berlin und Bern inne.