Mit Sport die Seele heilen
Noch immer ist hierzulande nur wenig bekannt, dass sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit rund 200.000 Shoah-Überlebende in Deutschland aufhielten: Befreite aus den Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern sowie osteuropäische Juden, die vor antisemitischen Übergriffen aus ihren Herkunftsländern geflüchtet waren.
Die meisten warteten auf eine Weiterreise nach Palästina oder Übersee. Doch der Staat Israel existierte noch nicht und die britische Mandatsmacht in Palästina verwehrte ihnen die Einreise. So waren die Juden gezwungen, einige Jahre in Auffanglagern zu verbringen, den sogenannten Displaced Persons Camps. Ebenso weitgehend unbekannt: Zwischen 1945 und 1948 spielten Juden in über 80 neu oder wieder gegründeten jüdischen Fußballvereinen und mehreren Ligen um Punkte und Tore.
Zwischen 1945 und 1948 spielten in Deutschland Juden in über 80 neu oder wieder gegründeten jüdischen Fußballvereinen und mehreren Ligen um Punkte und Tore.
Als die Grundbedürfnisse befriedigt waren, suchten die auf die Ausreise Wartenden Zerstreuung. Der Wunsch nach sportlicher Betätigung stand dabei für viele ganz oben auf der Liste, wie ein »Aufruf an die Jüdische Jugend« belegt: »Wir haben noch immer die Schrecken des Hungers, der Qualen, des Todes und der Krematorien vor unseren Augen. Darum wollen wir unsere alte Tradition zum neuen Leben erwecken, indem wir durch Sport die Seele zu neuer physischer und moralischer Kraft entwickeln.«
Schon wenige Monate nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus versammelten sich im zerstörten und besiegten Deutschland Überlebende der Shoah und gründeten jüdische Fußballvereine. Die Teams trugen Namen wie Hatikwa (Hoffnung), Hagibor (Held), Kadima (Vorwärts), Hapoel (Arbeiter) oder nannten sich nach jüdischen Freiheitskämpfern wie Jehuda Makkabi oder Simon bar Kochba.
Mit Abstand am beliebtesten war der Fußball. Dabei konnten die Menschen der Lethargie des Lagerlebens entkommen und einen Moment ihre traumatischen Erinnerungen an die mörderische Vergangenheit vergessen. Immer mehr ehemalige Aktive wollten ihr geliebtes Spiel wieder ausüben. Nachdem zunächst nur Freundschaftsspiele stattgefunden hatten, gründeten sich bald Bezirksligen, wie sie in der Region um München und Bamberg, im Raum Regensburg, Frankfurt sowie Kassel dokumentiert sind.
Königsklasse war eine 1. Fußball-Liga in der US-Zone
Neben diesen Ligen wurde als Königsklasse eine 1. Fußball-Liga in der US-Zone ins Leben gerufen. Nach Beendigung der Saison 1946 mit Vereinen wie Makabi Föhrenwald, Bar Kochba Regensburg, Hakoach Bamberg, Kochaw Eschwege, Hagibor Heidenheim oder Hapoel Zeilsheim errang die Elf von Ichud Landsberg souverän den ersten Titel »Jüdischer Fußballmeister« in der US-Besatzungszone.
Waren 1946 nur zehn Teams im eingleisigen Oberhaus der Liga vertreten, wurde der Spielbetrieb 1947 auf 22 Mannschaften ausgedehnt – aufgeteilt in eine Süd- und eine Nordgruppe. Die jeweiligen Sieger spielten um die Meisterschaft, die Zweiten um Platz drei. Mit einem deutlichen Vorsprung von sechs Punkten verwiesen die Landsberger die Elf aus dem Lager Feldafing auf den zweiten Platz. Im Norden errang das Team von Hasmonea Zeilsheim vor dem CSC Ulm die Meisterschaft. Die beiden Spitzenteams dominierten ihre Ligen und hatten frühzeitig die Tabellenführung inne.
Obwohl der Wetterbericht für den Tag der Endspiele um die Meisterschaft einen bewölkten Himmel und vereinzelt Schneefall vorausgesagt hatte, blieb es am 29. November 1947 in München trocken und freundlich. Gutgelaunt und warm eingepackt strömten die Fußballfans schon am Vormittag ins Grünwalder Stadion. »Aus allen Lagern, ob nah oder fern, kamen Hunderte, ja Tausende von Zuschauern mit Zügen, Omnibussen und Autos«, berichtete die Jidisze Sport Cajtung: »Zu Beginn des Hauptspieles hatten sich 5.000 Menschen eingefunden.« Dies sei »kein Wunder«, hätten doch viele »Fusbal-Simpatiker« seit Monaten ungeduldig auf diesen Tag gewartet.
Endspiel um die Meisterschaft
Punkt zwölf Uhr mittags pfiff der Schiedsrichter das Spiel um den dritten Platz an. Die Ulmer Mannschaft übernahm sofort die Initiative, setzte das Team von Feldafing mit schnellem Kurzpassspiel unter Druck und kam schon bald zu zwei guten Torchancen. Dennoch gelang Feldafing in der 25. Minute der erste Treffer durch Handelfmeter – zehn Minuten später das 2:0. Mit diesem Ergebnis gingen die Mannschaften in die Kabinen. Nur wenige Minuten nach Wiederanpfiff fiel überraschend der Anschlusstreffer. Die Ulmer drängten auf den Ausgleich und arbeiteten sich schöne Möglichkeiten heraus; allein es fehlte ihnen ein Vollstrecker. Mit viel Glück konnten die Feldafinger den Vorsprung über die Zeit retten und als Sieger vom Platz gehen.
Nun stand der Höhepunkt der Fußballsaison bevor: das Endspiel um die Meisterschaft. Die Begeisterung der 5.000 Zuschauer war riesig, als der Titelverteidiger Ichud Landsberg und sein Herausforderer, das Team von Hasmonea Frankfurt-Zeilsheim, einliefen. Die Partie versprach spannend zu werden, da Landsberg ersatzgeschwächt war und ohne zwei Stammspieler antreten musste. Beide Mannschaften begannen ohne taktische Zwänge aufzuspielen und lieferten sich einen herzerfrischenden Angriffsfußball. Aufgrund seiner kompakten Abwehr und der technisch versierteren Spieler bestimmte Landsberg vor allem in der zweiten Halbzeit das Geschehen auf dem Rasen. Das 1:0 fiel unmittelbar nach der Pause, das vorentscheidende 2:0 nur wenige Minuten später, kurz vor Schluss mussten die Zeilsheimer auch das 3:0 hinnehmen. Das Ausnahmeteam von Landsberg hatte sich wieder einmal durchgesetzt.
»Es lebe der jüdische Sport in unserem eigenen Staat.«
»Nachdem Ichud schon 1946 den Titel gewonnen hat, ist die Mannschaft erneut Fußballmeister in der US-Zone geworden«, freute sich die in Landsberg verlegte Jidisze Cajtung. »Wiederum zeigte Ichud, dass sie nicht zu besiegen sind – in den letzten zwei Jahren haben sie nur zwei Spiele verloren.« Auch die Jidisze Sport Cajtung feierte das Team. »Ichud ist weiterhin die beste Mannschaft in unserer Zone«, so die Schlagzeile auf dem Titel, und der Sportreporter jubelte: »Es lebe der jüdische Sport in unserem eigenen Staat.«
An diesem 29. November 1947 hatte nämlich die UN-Vollversammlung in einer mit Spannung erwarteten Sitzung die Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Ein lang ersehnter Traum war plötzlich zum Greifen nah – nicht nur in München tanzten Juden auf den Straßen, und einige freuten sich darauf, bald in den Vereinen von Haifa, Tel Aviv oder Jerusalem zu kicken. Eine dritte Meisterschaft jüdischer Fußballer fand in Deutschland nicht mehr statt.