22.05.2025
In der libyschen Hauptstadt kam es nach der ­Erschießung eines Milizenführers zu den heftigsten Kämpfen seit Jahren

Tumult in Tripolis

In der libyschen Hauptstadt bekämpfen sich nach dem Tod eines Milizenführers rivalisierende bewaffnete Banden. Derweil erwägt die US-Regierung, Migranten in Libyen zu internieren.

Die Nachricht sorgte für die heftigsten Kämpfe in der libyschen Hauptstadt Tripolis seit Jahren: Abd al-Ghani al-Kikli, genannt »Gheniwa«, ist tot. Der Anführer der mächtigen Miliz Stability Support Apparatus (SSA) wurde am Montag voriger Woche von der 444. Brigade, die der libyschen Armee nahesteht, an dessen Hauptquartier im Süden der Hauptstadt erschossen. Al-Kikli nahm dort an einem Treffen von Anführern verschiedener Milizen teil – mög­licherweise tappte er in eine Falle. In ganz Libyen herrscht ein Machtkampf und eine Aufspaltung der politischen Institutionen zwischen der international anerkannten Interimsregierung von Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba und einem dreiköpfigen Präsidialrat im Westen und dem diktatorisch regierenden Warlord Khalifa Haftar im Osten; Tripolis gehört zu Dbeibas Machtbereich, ist aber zwischen rivalisierenden Milizen aufgeteilt.

Ohne Anführer kollabierte die SSA innerhalb kürzester Zeit. Ihr Machtgebiet im südlichen Stadtviertel Abu Salim haben die 444. Brigade und andere Milizen übernommen, wobei es zu Kämpfen kam. Am Dienstag voriger Woche hieß es, eine Militäroperation sei »erfolgreich« abgeschlossen worden. Doch bereits am Abend brachen neue, noch heftigere Kämpfe aus. Beteiligt war diesmal auch die salafistische Miliz Rada Special Deterrence Forces (SDF), die ihr Territorium im Osten von Tripolis gegen die Emporkömmlinge der 444. Brigade verteidigen wollte und dafür die Hilfe verbündeter Milizen angefordert hatte.

Die chaotischen Ereignisse zeigen vor allem die Zuspitzung des Machtkampfs zwischen Milizen, die das Land und den Staat unter sich aufgeteilt haben und sich über die Kontrolle staatlicher Institutionen einen äußerst dürftigen legalen Anstrich geben.

Bis zum Waffenstillstand am Tag da­rauf waren mindestens acht Zivilisten umgekommen. Die SDF und die 444. Brigade warfen sich gegenseitig vor, die Kämpfe begonnen zu haben. Die haben ein politisches Nachspiel: Noch am Tag des Waffenstillstands brachen Demonstrationen aus, die teils mit scharfer Munition beantwortet wurden. Die Proteste richteten sich gegen Dbeiba, dem vorgeworfen wird, die Kämpfe zum eigenen Vorteil angestiftet zu haben, um seit Jahren überfällige Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verhindern zu ­wollen.

Zwei Tage später fanden weitere Demonstrationen gegen Dbeiba statt. Einige Protestierende zogen vor seinen Amtssitz, es kam zu tödlichen Schüssen auf die Polizei. Unklar ist, wie repräsentativ die Demonstrationen sind oder ob sie von Milizen instrumentalisiert wurden. Denn in Gebieten, die Dbeibas Unterstützer kontrollieren, gab es Demonstrationen für ihn oder Aufrufe, die Demonstrationen zu meiden. Zudem haben am Freitag voriger Woche vier Minister der Regierung ihren Rücktritt erklärt und den Demonstrationen ihre Unterstützung ausgesprochen. Dbeiba reagierte darauf, indem er ihre Rücktritte für ungültig erklärte; diese seien nur über soziale Medien erfolgt. Auch libysche Parlamentarier haben Dbeibas Rücktritt und die Bildung einer neuen Übergangsregierung gefordert.

Die chaotischen Ereignisse zeigen vor allem die Zuspitzung des Machtkampfs zwischen Milizen, die das Land und den Staat unter sich aufgeteilt haben und sich über die Kontrolle staatlicher Institutionen einen äußerst dürftigen legalen Anstrich geben. Die aufstrebende 444. Brigade steht Dbeiba nahe, ebenso die 111. Brigade und die mit ihr verbündeten Milizen aus der westlibyschen Küstenstadt Misrata, seinem Geburtsort. Dbeiba beschreibt sie als staatliche Soldaten und stellt sie der SSA gegenüber, die für ihre Beteiligung an kriminellen Machenschaften, brutale Repression und Haftzentren für Migrant:innen berüchtigt ist. Die SDF hingegen ist vor allem für ihre salafistische Ideologie und ihre Gewalt gegen diejenigen bekannt, die ihrer Ideologie widersprechen. Sie kontrolliert den Präsidialrat, der wiederum die salafistische Unterdrückung der libyschen Bevölkerung durch die SDF absegnet.

Italien unterstützt viele libysche Banden

Einige der Profiteure dieser beiden Milizen wurden inhaftiert oder haben nun ihre Posten in der Regierung Dbeibas verloren, zum Beispiel Osama al-Najim, der bisherige Leiter der Kriminalpolizei und Verantwortliche für die Gefängnisse. Al-Najim wird vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen Zivilisten und Migranten gesucht, wurde im Januar in Italien verhaftet und dann auf Druck der italienischen Regierung wieder freigelassen. Italien unterstützt viele libysche Banden und deren kommerziell betriebene brutale Haftzentren, um zu verhindern, dass Migrant:innen nach Italien gelangen.

Auch die US-Regierung von Präsident Donald Trump hat Interesse daran, die libyschen Haftzentren weiterlaufen zu lassen. Am 1. Mai wurde bekannt, die USA planten, inhaftierte Migrant:innen mit Strafregister in Libyen zu internieren. Bereits am 7. Mai hätte ein erster Abschiebeflug nach Libyen starten sollen, der bis dahin geheim gehalten worden war. Die Betroffenen waren dazu gedrängt worden, ihre Überstellung in libysche Haftzentren zu unterschreiben, ohne zu wissen, was sie erwartete. Menschenrechtsorganisationen klagten noch am selben Tag und bekamen vor Gericht recht, das Flugzeug konnte nicht abheben. Die libyschen Regierungen in Ost und West dementierten, dass sie der Aufnahme der Betroffenen zugestimmt hätten.

Auch bei der Frage des Gaza-Streifens spielt Libyen eine Rolle in US-amerikanischen Plänen. NBC News zufolge arbeitet die US-Regierung im Rahmen von Trumps Idee einer »Riviera des Nahen Ostens« an dem Vorhaben, bis zu eine Million Palästi­nenser:innen aus dem Gaza-Streifen dauerhaft nach Libyen zu verfrachten. Im Gegenzug locke die USA damit, Milliarden an eingefrorenen libyschen Geldern freizugeben.