22.05.2025
Ein neues Buch zeigt, wie ­autoritär Jean-Luc Mélenchon bei den Linkspopulisten von LFI herrscht

Mélenchon verliert die Contenance

Ein Enthüllungsbuch über die parteiinternen antidemokratischen Strukturen, die bei den Linkspopulisten vom LFI herrschen, macht in Frankreich Furore.

Paris. Sozialdemokratisches Programm, stalinistische Struktur? Diese Frage stellte sich, wenn in den vergangenen Tagen in Frankreich intensiv über die innere Verfasstheit der linkspopulistischen Wahlplattform oder Wahlbewegung – offiziell möchte sie jedenfalls keine Partei sein – La France insoumise (LFI, Das unbeugsame Frankreich) debattiert wurde. In nahezu allen französischen Medien wurde das am 7. Mai ­erschienene Buch der Journalistin Charlotte Belaïch von Libération und ihres Kollegen von Le Monde, Olivier Pérou, zumindest erwähnt.

Es trägt den Titel »La Meute« (Die Meute). Der Name spielt auf die in dem Buch detailliert beschriebenen Umgang der Organisation mit innerparteilichem Widerspruch und mit Kritikern generell an.

Die 350 Seiten von »La Meute« zeugen von Brutalität in den Umgangsformen, im Ton und in den menschlichen Beziehungen sowie von autoritären Strukturen.

350 Seiten zeugen von Brutalität in den Umgangsformen, im Ton und in den menschlichen Beziehungen sowie von autoritären Strukturen. Diese Enthüllungen kommen nicht ganz überraschend, war doch für die Öffentlichkeit zum Beispiel bei der vorgezogenen Parlamentswahl im Juni und Juli 2024 klar ersichtlich, wie der Gründer und faktische Anführer von LFI, Jean-Luc Mélenchon, mit Mitgliedern umgeht, die bei ihm in Ungnade gefallen sind. Mehrere prominente Abgeordnete wie François Ruffin, Alexis Corbière, Raquel Garrido, Clémentine Autain und Hendrik Davi wurden nach Meinungsverschiedenheit mit Mélenchon aus der LFI-Fraktion geworfen.

Nun liegen jede Menge dazu passender Interna vor. Ausführlich schildern die Autoren, wie Mélenchon etwa mit seinem langjährigen politischen Ziehsohn Jérôme Guedj umging, den er als 13jährigen kennenlernte. Beider Verhältnis war lange Zeit nicht nur ein politisches, sondern ein sehr persönliches. Dann kam es zum Bruch, unter anderem weil Guedj Mélenchon nicht beim Austritt aus dem Parti socialiste (PS) zwecks Gründung einer eigenen Partei – das war 2009 Mélenchons Parti de gauche – folgen wollte. Bei einer Fernsehdebatte leugnete Mélenchon glatt, Guedj zu kennen.

Übel erging es auch François Delapierre, ebenfalls ein langjähriger Weggefährte Mélenchons, der 2015 im Alter von 44 Jahren an Krebs verstarb. Mélenchon hielt eine pathetische Grabrede, doch bei der auf der Beerdigung gezeigten Fotoschau wurden alle Stationen aus Delapierres reichhaltigem politischen Leben, in denen er nicht an Mélenchons Seite tätig gewesen war, konsequent ausgelassen.

Abspaltung von der französischen Sozialdemokratie

LFI entstand aus einer Abspaltung von der französischen Sozialdemokratie mit genuin demokratischem Anspruch, legt aber heutzutage Praktiken an den Tag, wie sie aus dem autoritären Parteikommunismus bekannt sind. Das wirft Fragen auf. Das Buch versucht, sie zu beantworten.

Einen Teil der Antwort findet es in der von den anfänglichen Mitstreitern Mélenchons erfahrenen Marginalisierung als Parteilinke innerhalb des PS. Mehrere von ihnen werden im Buch zitiert, sie sprechen von der völligen Missachtung ihrer Positionen unter dem früheren Vorsitzenden und späteren Staatspräsidenten François Hollande.

Nie wieder so wirkungslos innerhalb einer Partei zu sein, zähle seitdem zu den Obsessionen Mélenchons. Ebenso wie die Annahme, wegen seines fortgeschrittenen Alters und der internationalen Rechtsentwicklung nur noch für eine kurze Zeitspanne politisch wirken zu können. Doch auch in Mélenchons frühen politischen Sozialisation bei den trotzkistischen Lambertisten in den siebziger Jahren sehen die Autoren eine Quelle für dessen Autoritarismus.

»Ich kenne ihre Methoden«

Die Veröffentlichung von »La Meute« und die Kritik am Zustand von LFI – autoritäre Führung, Unfähigkeit, parteiinternen Widerspruch auszuhalten, Rauswurf von Mitgliedern, die Mélenchon nicht loyal ergeben sind – wusste auch der wegen einer Missbrauchsaffäre angeschlagene Premierminister François Bayrou für sich zu nutzen.

Mitte vergangener Woche wurde er unter Eid fünfeinhalb Stunden lang von einem Ausschuss der Nationalversammlung vernommen. Dabei ging es um den sich noch immer ausweitenden Missbrauchsskandals an katholischen Privatschulen in Frankreich, insbesondere an der Internatsschule von Bétharram in den Pyrenäen.

Bayrou wurde dazu befragt, was er wusste oder hätte wissen müssen, als seine eigenen Kinder in Bétharram eingeschult waren, seine Frau dort unterrichtete und er selbst in den neunziger Jahren als Bildungsminister amtierte. Alle auf ihm lastenden Vorwürfe stritt er ab, gab an, stets nur das über die Presse Veröffentlichte gewusst zu haben, und versuchte, den Spieß umzudrehen: Er stellte sich als Opfer einer Art stalinistischen Schauprozesses dar. Ostentativ legte er dabei ein Exemplar von »La Meute« während der Einvernahme auf sein Pult und griff den Co-Vorsitzenden des Ausschusses, den LFI-Abgeordneten Paul Vannier, mehrfach an. »Ich kenne ihre Methoden«, sagte er und beschuldigte Vannier, ihn in den sozialen Medien diffamiert zu haben.

Angeblich falsche Zitate, »degenerierte Leute«

Zudem sprach er von einer politischen Instrumentalisierung des Falls. Tatsächlich aber hatten die beiden Vorsitzenden, Vannier und seine Kollegin von Renaissance (der Partei des Staatspräsidenten Emmanuel Macron), Violette Spillebout, in Sachen Aufklärung des Schulskandals bisher weitgehend an einem Strang gezogen.

Offiziell kommentieren wollte die LFI-Führung das Buch nicht, doch einige Abgeordnete, vor allem aber ihr Koordinator Manuel Bompard – der als eine Art Parteivorsitzender unter dem informellen, doch übermächtigen Gründervater Mélenchon fungiert – gaben kurze persönliche Stellungnahmen ab. Bompard und die Fraktionsvorsitzende Mathilde Panot sprachen von Klatsch, von falschen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten.

Mélenchon selbst äußerte sich zu dem Buch erst eine Woche nach dessen Erscheinen. Auf einer Veranstaltung in Aubenas am 13. Mai bekundete er, »La Meute« nicht gelesen zu haben, er wolle es auch nicht lesen, damit es nicht seinen Kopf verderbe. Verfasst worden sei es von gens dégénérés (degenerierten Leuten).