22.05.2025
Jamie Merchant, Buchautor, im Gespräch über das Erstarken des ökonomischen Nationalismus

»Die Weltwirtschaft als Nullsummenspiel«

Konkurrenz aus China und eine Stagnation der Weltwirtschaft haben in den USA die Globalisierung in Misskredit gebracht. Die »Jungle World« sprach mit dem Autor Jamie Merchant über die Verschärfung des ökonomischen Nationalismus unter Präsident Donald Trump.

Als Donald Trump im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahl gewann, wuchs die Wirtschaft in den USA schneller als in der EU oder in Deutschland. Dennoch argumentieren Sie, dass Trumps Aufstieg letztlich das Ergebnis einer weltweiten wirtschaftlichen Stagnation und einer Erosion der politischen Unterstützung für die Globalisierung des Kapitalismus sei. Wie begründen Sie das?
Der Niedergang der arbeitsintensiven Industrie in den USA war ein jahrzehntelanger Prozess, der bereits in den fünfziger Jahren begann und in den sechziger und siebziger Jahren an Tempo gewann. Weil die Profitabilität der verarbeitenden Industrie sank, wurde Produktion in Länder mit niedrigeren Arbeitskosten verlagert. Das Ergebnis in den USA war ein wachsendes Handelsdefizit, eine Binnenwirtschaft, in der das meiste Wachstum im Finanzsektor geschaffen wird, eine wach­sende Konzentration des Reichtums – und politische Instabilität, insbesondere nach der Finanzkrise 2008, die schließlich zu einer Figur wie Trump führte.

Aber war die Globalisierung nicht ein durchschlagender Erfolg für das US-Kapital?
Ja, vor allem für technologisch führende Unternehmen. Ein Konzern wie Apple kontrolliert Entwicklung und Vertrieb und indirekt Lieferketten, die sich über ganz Asien und insbesondere China erstrecken. Ich nenne das die »planetarische Fabrik« – die wirtschaftliche Struktur der Ära, die oft als Neoliberalismus bezeichnet wird. Zusammen mit Einzelhändlern wie Walmart oder Amazon agieren US-Konzerne gegenüber Lieferanten in Niedriglohnländern wie ein Käufermonopol, während sie selbst den nordamerikanischen Markt beherrschen. Das war enorm profitabel. Doch als insbesondere chinesische Unternehmen begannen, technologisch aufzuholen und in der Wertschöpfungskette aufzusteigen, hat dieser neue Wettbewerb die Unterstützung für die Globalisierung untergraben und zu einer Trendwende hin zum wirtschaftlichen Nationalismus in der US-Politik geführt.

»Ökonomischer Nationalismus begleitet die liberale internationale Ordnung wie ein Schatten, der in Krisenzeiten deutlicher zutage tritt.«

In Ihrem Buch schildern Sie, mit welch optimistischer Rhetorik die sogenannte Globalisierung in den neunziger Jahren noch einherging, als es hieß, dass davon alle profitieren würden. Was hat sich seitdem geändert?
Eine Zeit lang profitierten nicht nur US-Konzerne, sondern es gab hohe Investitionen und Einkommenszuwächse auch in ärmeren Ländern, insbesondere in China. Aber die ursprüngliche Rentabilitätskrise war immer nur ­vorübergehend gelöst und trat ständig wieder hervor. Außerdem führte die Verlagerung der Produktion ins Ausland zu einer ungleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen in den USA. Das trug dazu bei, den Status quo nach der Finanzkrise 2008 zu de­legitimieren. Anstelle der optimistischen Botschaft, dass internationaler Handel und Wettbewerb allen zugute kämen, setzte sich die Botschaft von Donald Trump durch: dass Handel bedeute, dass andere die USA ausnutzen, dass die USA ein Opfer der globalen Wirtschaftsordnung seien und dass sie ihre nationalen Interessen energischer durchsetzen müssten. Die Weltwirtschaft wird als Nullsummenspiel betrachtet, da das Wachstum weltweit zu stagnieren begann.

Was sind Zeichen dieser Stagnation? 
Ein Mangel an Investitionen lässt sich weltweit und auch in den USA beobachten, noch einmal deutlicher nach der Finanzkrise von 2008. Das war ein Grund für die sogenannte Industrie­politik unter der Regierung Biden: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurden gezielt Industrieinvestitionen subventioniert. Das verschärfte jedoch einen weiteren empirischen Indikator für Stagnation: die Verschuldung. Der staatliche und private Schuldenberg wächst seit Jahrzehnten in allen Industrieländern, in der EU, in Japan, in China. In den USA sind die Staatsschulden zuletzt dramatisch gestiegen, insbesondere nach den riesigen Rettungspaketen von 2008 und der Covid-19-Pandemie. ­Geringe Rentabilität führt zu geringen Investitionen, was zu steigenden Staatsausgaben führt, oft direkt in Form von Subventionen, Zuschüssen oder Steuersenkungen für Unternehmen. Biden setzte auch einige der nationa­listischen Maßnahmen der ersten Präsidentschaft Trumps fort, indem er beispielsweise die Zölle gegen China beibehielt. Zölle auf Elektrofahrzeuge aus China erhöhte er auf 100 Prozent. Aber was Trump jetzt tut, ist eine ­Eskalation dieses ökonomischen Nationalismus.

Trump hat gegen fast alle wichtigen Handelspartner der USA Zölle erhoben. Ist das rational?
Die Sache hat viele Seiten. Eine ist sogar Korruption. Jedes Mal, wenn Trump neue Zölle ankündigt oder sie zurücknimmt, können seine reichen Freunde die Kursschwankungen an der Börse antizipieren. Eine andere Dimension ist die nationale Sicherheit. Das reshoring bestimmter Branchen, insbesondere der Halbleiterindustrie, ­bereitet die USA auf einen möglichen militärischen Konflikt vor. Trump agiert sehr erratisch, aber jene Teile des US-Staats, die die Konfrontation mit China, dem Iran und Russland ernst nehmen, versuchen, seine Impulse in gewisse Bahnen zu lenken.

Aber inwiefern ist Trumps Handelspolitik im Interesse des US-Kapitals?
Wenn es um Sicherheitspolitik geht, setzt der Staat seine Interessen durch, auch wenn das der Kapitalakkumulation schadet. Und die Korruption, die ich erwähnt habe, kommt zwar bestimmten Kapitalisten zugute, aber nicht dem nationalen Kapital als Ganzes. Es gibt einige Kapitalfraktionen, vor allem aus dem ­Silicon Valley, die hofften, von Trumps Politik zu pro­fitieren. Und Zölle helfen bestimmten Unternehmen, den heimischen Markt zu kontrollieren, indem sie zum Beispiel chinesische Elektroautos fernhalten. Aber insgesamt ist die Kapitalistenklasse kein Fan von Zöllen in der extremen Form, wie Trump sie eingeführt hat. Deshalb hat er viele von ihnen auch schon wieder zurückgenommen.

In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass mit dem Optimismus der ­Globalisierung liberale Ideen generell diskreditiert wurden, wodurch nicht nur Nationalismus, sondern auch Verschwörungstheorien sich ausbreiteten. Könnten Sie das ­erklären?
Verschwörungstheorien sind mittlerweile Teil des politischen Mainstream. Das hängt mit dem allgemeinen Gefühl zusammen, dass die politischen Institutionen nicht halten können, was sie versprechen. Auf der Rechten dienen Theorien über einen »tiefen Staat« dazu, zu erklären, warum die Wünsche von Trumps Anhängern nicht in Erfüllung gehen, obwohl dieser an der Macht ist. Trump versprach, die »korrupten Eliten« hinauszuwerfen, »Amerika wieder groß« zu machen – stattdessen verhält er sich selbst wie ein korrupter Plutokrat und nichts verbessert sich. Er versprach, Medicaid, das Wohlfahrtsprogramm für die Gesundheitskosten der Älteren und Armen, nicht zu kürzen, aber natürlich versuchen die Republikaner im Kongress jetzt, genau das zu tun. Beide Parteien sind immer weniger in der Lage, die Versprechen zu halten, die sie ihren Wählern geben. Verschwörungstheo­rien erklären vermeintlich, warum die Regierung korrupt und unfähig ist. Dabei verschleiern sie aber die tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die unser Leben bestimmen.

Trump macht vor allem »die Globalisten« für den Ausverkauf des ­Landes verantwortlich.
Das ist im Grunde ein antisemitisches Verständnis von Politik: dass eine ­hinterhältige Clique hinter den Kulissen das Land an ausländische Interessen verkaufe und sich dabei bereichere.

»Historisch schwankt die moderne Weltwirtschaft immer zwischen Perioden der Offenheit und Integration und Perioden der nationalen oder imperialen Abschottung. Derzeit geht es wieder in Richtung Abschottung, was an Entwicklungen in den zwanziger oder dreißiger Jahren erinnert, obwohl sich die Welt seitdem stark verändert hat.«

Wird Trump in der Lage sein, eine neue Welthandelsordnung aus­zuhandeln, die den USA zugutekommt?
Ich bin skeptisch. Trumps Stil, Zölle zu verhängen, sie wieder zurückzunehmen, zu drohen und zu erpressen, ist zu unvereinbar beispielsweise mit der Art und Weise, wie die EU funktioniert, die sehr stark wettbewerbsorientierte Märkte schützt. Vielleicht wird Trump einige Handelsabkommen abschließen können, wie mit Großbritannien. Aber er demontiert die Rolle der USA als verantwortungsvoller Partner und ihren Anspruch auf weltweite Führung. Die USA präsentierten sich stets als Vorreiter des Freihandels und schufen nach dem Zweiten Weltkrieg ein entsprechendes System, in das sie alle anderen Länder integrierten. 70 Jahre lang haben die USA diese liberale Handelsordnung maßgeblich aufgebaut und sie beaufsichtigt. Das hat Trump beendet.

In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass wirtschaftlicher Nationalismus kein Gegensatz zum globalisierten Kapitalismus ist, sondern von ihm hervorgebracht wird. Können Sie das erläutern?
Historisch schwankt die moderne Weltwirtschaft immer zwischen Perioden der Offenheit und Integration und Perioden der nationalen oder imperialen Abschottung. Derzeit geht es wieder in Richtung Abschottung, was an Entwicklungen in den zwanziger oder dreißiger Jahren erinnert, obwohl sich die Welt seitdem stark verändert hat. Der globale Kapitalismus ist niemals stabil, der Kern der kapitalistischen Akkumulation wandert von einem Ort zum anderen, es gibt endlosen Wettbewerb und immer neue Gewinner und Verlierer, immer neue Barrieren für die Profitabilität, gegen die die Kapitalisten und ihre Staaten ankämpfen. Der Staat hat dabei stets die Rolle, die Bedingungen für die Kapitalakkumulation aufrechtzuerhalten und zu verbessern, was bedeutet, dass ökonomischer Nationalismus die liberale internationale Ordnung begleitet wie ein Schatten, der in Krisenzeiten deutlicher zutage tritt.

Auch während der neoliberalen Ära?
Der Neoliberalismus wird oft so verstanden, dass sich der Staat aus der Wirtschaft zurückgezogen hätte. Aber das stimmt nur in gewissem Sinne. Im Allgemeinen stiegen die Staatsausgaben und die Staatsverschuldung weiter an. Und seit 2008 auf eine qualitativ neue Art und Weise. Wir befinden uns in einer Situation, in der das mächtigste Land der Welt seine Nationalökonomie durch immer drastischere staatliche Interventionen über Wasser hält, sei es durch Verschuldung, Industriepolitik, Subventionen, Rettungspakete oder eine aggressive Handelspolitik. Das treibt die Welt in eine sehr turbulente und gefährliche Richtung.

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Jamie Merchant

Jamie Merchant

Bild:
privat

Jamie Merchant ist der Autor von »Endgame – Economic Nationalism and Global Decline« (Reaktion Books, 2024). Er schreibt über ökonomische und politische Themen unter anderem für »Brooklyn Rail«, »The Baffler«, »The Nation« und »In These Times«.