Links-rechts-Schwäche
Woke zu sein, ist seit einigen Jahren das geflügelte Wort dafür, sich vermeintlich diskriminierungssensibel und konform mit den Sprach- und Verhaltenscodes des Intersektionalismus zu verhalten. Nicht selten haben damit einhergehende engstirnige bis inquisitorische Praktiken linke Debatten autoritär verengt und emotionalisiert, bisweilen regelrecht zensiert. Das haben rechte Kulturkämpfer aufgegriffen und reaktionäre Positionen mit dem Argument aufgewertet, dass sie wenigstens nicht woke seien. Der russische Despot Wladimir Putin und der US-amerikanischen Präsident Donald Trump bedienen sich dieser Entwicklung. Ist das Anlass, die Kritik an der Wokeness zu überdenken? Dierk Saathoff plädiert dafür, sich mit der Kritik an der Wokeness besser zwischen alle Stühle zu setzen, als in der rechten Antiwoke-Bewegung die Feinde seiner Feinde auszumachen (»Jungle World« 20/2025).
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Wokeness ist heutzutage vielen gleichbedeutend mit linkem Denken. Sie gilt hierzulande und insbesondere in den USA als Erkennungsmerkmal der Neuesten Linken, selbst dann, wenn sie den Begriff nicht unbedingt vor sich herträgt. Die damit verbundene Kritik mag oft oberflächlich, ja hämisch daherkommen, und zweifellos nutzt die extreme Rechte die Ablehnung von Wokeness als Ausgangspunkt für ihre reaktionäre Politik.
Und doch ist der Befund nicht falsch, dass Wokeness die heutige Linke im Griff hält. Denn die Einstellungen, die mit »woke« gemeint sind, bilden die eine Seite eines Kulturkampfs, der die politischen Lager neu geordnet hat. Dieser Kulturkampf ist zwar – das wird häufig übersehen – primär keiner zwischen links und rechts, sondern einer zwischen soziopolitischen Milieus. Die linken und rechten Formationsprozesse bauen darauf aber auf. Ausdruck und Produkt dieser Prozesse ist jene Neueste Linke, die die Neue Linke beerbt hat.
Auch der späte Adel setzte sich demonstrativ für die Armen, Geknechteten und Geschundenen ein, bezahlte sein schlechtes Gewissen mit vermeintlich sozialem Engagement.
Gewiss, schon länger verfängt weder linke, geschweige denn subkulturelle Politik sonderlich gut in der Arbeiterschaft. Aber als die identitätspolitischen Konzepte, die sich infolge von Achtundsechzig entwickelten, in den zehner Jahren auf den bildungsbürgerlichen Mainstream übersprangen, geschah etwas Folgenreiches. Denn die standpunkttheoretischen Argumentationsmuster, gepaart mit der Politisierung des Privaten – die übrigens explizit kulturkämpferisch gemeint war –, erwiesen sich als wirkungsvolle Instrumente, um von der eigenen Position in der Klassenhierarchie abzulenken: durch eine Simulation altruistischer Praktiken. Es hat sich so, wie Jörg Finkenberger schreibt, »eine Sorte Aktivismus breitgemacht«: »Seine Rede klingt vage links; er redet viel von Unterdrückung, aber es scheint, er rede eigentlich nur von sich selbst.«
Diese Wohltätigkeitskultur erinnert an den späten Adel und die frühen Bonzen. Auch da setzte man sich demonstrativ für die Armen, Geknechteten und Geschundenen ein, bezahlte sein schlechtes Gewissen mit vermeintlich sozialem Engagement. Das heutige Bildungsbürgertum hat dieses redwashing perfektioniert. Durch Bezugnahme auf subalterne Gruppen gab es sich nicht nur einen sozialen Anstrich; es hat auch das Label »links« für sich funktionalisiert. Denn mit dem Erwerb der verhaltenspolitischen Instrumente aus der linken Szene befriedigte es sein Bedürfnis nach moralischer Distinktion. Zwar konnte die (Pseudo-)Linke damit einen zweiten Marsch durch die Institutionen antreten, das linke Mobilisierungspotential in den unteren Klassen hat sie damit aber verspielt.
Indem als links konnotierte Versatzstücke von Antirassismus und (Queer-)Feminismus durch Universitäten, Medien, Politik und Schulen getragen wurden, wurde auch die Linke aufgesogen – und als Teil eines Herrschaftsprojekts wahrgenommen. Das neolinke Amalgam aus bildungsbürgerlicher Basis und linkem Überbau steht demnach für soziale Kontrolle. Permanent inszeniert man sich als moralisch überlegen; Gründe zum Empören und Ächten, an denen man dies beweisen kann, finden sich immer. Ob der Klassenzusammensetzung der Neolinken, die Abweichungen von ihrem Sprach- und Verhaltenskodex als Zivilisationsbruch sanktioniert, nimmt es daher nicht wunder, dass Wokeness sozial und letztlich auch politisch polarisierend wirkt. Zugleich erzeugt diese habituelle Intoleranz in der Neolinken selbst einen Konformitätsdruck: Man bekommt Angst, mit Anerkennungs- und Reputationsverlust bestraft zu werden. Das macht Cancel Culture im Kern aus.
Probleme linker Identitätspolitik bleiben unbehandelt
Hier hat man es einer »Schweigespirale« zu tun, wie es Elisabeth Noelle-Neumann einst nannte. Und diese begünstigt eine epistemische Krise. Denn der repressive Diskurs sorgt dafür, dass viele Probleme linker Identitätspolitik unbehandelt bleiben. Obwohl sozialanalytisch voraussetzungsreich, kennen ihre oftmals postadoleszenten Epigonen nur Worthülsen. In ihren soziopolitischen Milieus haben sich normative Gewissheiten hergestellt, die sie fleißig nachplappern. Dadurch werden linke Debatten eindimensional verengt. Vieles erschöpft sich in einem oberflächlichen Hantieren mit Begriffen, nicht selten auf rein assoziativer Basis. Die damit verbundenen Affekte (»das sagt man nicht!«, »rechtes Narrativ!«, »Normalisierung!«) sorgen für einen Denkverschluss. So können viele nicht mal mehr linke Kritik von rechter unterscheiden.
Symptomatisch dafür ist die reflexhafte Abwehr von Kritik an Wokeness, die eben nicht nur von rechtsextremer, sondern auch von konservativer, liberaler und linksradikaler Seite kommt. Selbst Kritiker der Wokeness, die sich zugleich gegen rechtes Denken richten, werden diesem nicht selten zugeordnet. Möglich wird das über die vulgäre Konstruktion, »woke«, »Cancel Culture« oder auch nur »Kulturkampf« seien eben rechte Kampfbegriffe. Ist die Debatte erst einmal derart emotional aufgeladen, nimmt man nicht mal mehr zur Kenntnis, dass es elaborierte linke Kritik an Wokeness gibt, die sich von der des rechten Lagers deutlich unterscheidet. Die hingegen wird zum Strohmann gemacht, um sich auch der linken Kritik an dem Phänomen zu entledigen.
Häufig zu hören ist etwa die Behauptung, Woke-Kritik richte sich gegen die Berücksichtigung subalterner Interessengruppen, ja gegen Feminismus oder Antirassismus generell. Noch vulgärer wird es, wo auf eine vermeintliche Ursprungsbedeutung von »woke« verwiesen wird: Es gehe dabei doch nur um eine Art Anstand gegenüber diskriminierten Gruppen. Wer diesen (vermeintlich) zurückweise, der reproduziere neurechte Narrative oder nehme ihre Normalisierung in Kauf. Bei nicht wenigen läuft das auf eine Gleichsetzung von Woke-Kritik mit Menschenverachtung oder Rechtsextremismus hinaus. Das ist eine unredliche Verkettung, eine radikale Engführung, der jegliches Differenzierungsvermögen abgeht.
»Wer nutzt welche Begriffe?«
Die Folge dieser Übersimplifizierung ist eine vergiftete Diskussion, die nicht mal mehr zur Sache selbst spricht, sondern sich gegen die Person des Kritikers richtet. In der gegenwärtigen Situation, wo die Ächtung vermeintlich rechter Einflüsse einigen zur moralischen Pflicht geworden ist, nimmt das zuweilen Formen eines Massenmobbings an. Es zeigt sich hier ein haarsträubender Niveauverlust, wenn ein »Wer nutzt welche Begriffe?« mit Gesellschaftsanalyse verwechselt wird. Dabei kennt die Geschichte linker und rechter Ideologie einige Gegenstände, die beiderseits herausgefordert wurden. So hat die extreme Rechte auch eine Kritik am (demokratischen) Staat, mitunter auch am Kapitalismus. Trotzdem wäre es absurd, jene Kritik mit linker Kritik an Kapitalismus, Staat oder auch Demokratie in eins zu setzen.
Selbst Marxismus und Kommunismus erfuhren von Beginn an eine linke Kritik, etwa seitens des Anarchismus oder auch der sich vom Marxismus emanzipierenden Sozialdemokratie. Niemand bei Verstand würde dies heute mit dem Antimarxismus und Antikommunismus der extremen Rechten in Verbindung bringen, auch wenn dabei gleiche oder ähnliche Begriffe verwendet wurden. Beim Thema Wokeness wird dies aber permanent gemacht. Allenfalls vermag man anzuerkennen, dass es woke Übertreibungen und Auswüchse gibt, die kritikabel seien; wer Wokeness aber grundsätzlich kritisiere, mache sich mit dem rechten Projekt gemein. Man richtet sich so in einem manichäischen Glaubenssystem ein: hier die progressive, dort die reaktionäre Seite.
Dabei ist rechtsextreme Woke-Kritik leicht zu identifizieren. Sie sieht etwa in Feminismus oder Antirassismus eine Bedrohung für die Volksgemeinschaft, beklagt einen antiweißen Rassismus oder sieht in Abweichungen von der Heteronormativität abartiges Verhalten. Von derlei reaktionären Inhalten unterscheidet sich linke Kritik an Wokeness fundamental. Sie richtet sich nicht gegen subalterne Interessen, sondern vor allem gegen einen epistemischen Modus, der sich letztlich gegen die Aufklärung richtet. Eine aufgeklärte Kritik an Wokeness hingegen zielt auf die unbeabsichtigten regressiven Momente neolinker Politik.
Gerede vom proletarischen Standpunkt
Dabei zeigt die Geschichte doch, dass linke Bewegungen, die sich in moralischer Überlegenheit wähnen, leicht ins Regressive kippen können – angefangen bei der Arbeiterbewegung. So kritisierte Max Weber mit seinem Konzept der Gesinnungsethik Tendenzen im Sozialismus, die eine höhere Moral für sich reklamierten. Man denke hier an das Gerede vom proletarischen Standpunkt im Marxismus oder auch Anarchismus, das vor Kritik an den Effekten der eigenen Politik immunisierte – und Abweichler als reaktionär markierte. Auch Karl Popper hatte dies im Blick, als er seinen kritischen Rationalismus entwickelte. Er nahm damit die Kritik an einer standpunkttheoretischen Epistemologie vorweg, die linker Identitätspolitik eigen ist.
Besonders fatal an dieser Politik ist aber ihre habituelle Intoleranz. Denn wie subalterne Interessen zu interpretieren sind, bestimmt dabei – welch standpunkttheoretische Ironie – ein Bildungsbürgertum, das seine gefühlten Wahrheiten auf die Subalternen projiziert. Didier Eribon, der einst die Debatte über linke Identitätspolitik richtig in Fahrt brachte, verwies nicht zu Unrecht auf die abstoßende Wirkung, die sie auf die Arbeiterklasse habe, zu der auch Migranten und Frauen zählen. Kulturelle Anschlussfähigkeit bedingt eben politische Resonanzfähigkeit. Der Erfolg der AfD unter Arbeitern führt das schmerzhaft vor Augen. Linke können sich der Analyse solcher Klassenfragen widmen – oder aber weiter diskutieren, ob jemand rechts ist, der das Wörtchen »woke« in kritischem Kontext benutzt.