29.05.2025
Der Bedeutungsverlust des Katholizismus stärkt die extreme Rechte

Die Bremse lockert sich

Der Bedeutungsverlust des Katholizismus schwächt die Union und nützt der AfD. So reaktionär er ist, so relativ gut war es ihm lange Zeit gelungen, faschistische Impulse zu hemmen.

Bei einer Aufzählung dessen, was besonders bundesdeutsch ist, dürfen die Unionsparteien nicht fehlen. In keinem anderen Land Europas war nach dem Zweiten Weltkrieg die Korrelation zwischen Konfessionszugehörigkeit und Parteipräferenz so stark ausgeprägt wie im westdeutschen Fall die zwischen römisch-katholischem Bekenntnis und Stimmabgabe für CDU und CSU. Wahlanalysen ergaben noch bis in die neunziger Jahre hinein, dass eine satte absolute Mehrheit der katholischen Wähler für die Union stimmte. Anders als bei protestantischen Christen war die Konfession hier ein stärker wahlentscheidender Faktor als jedes andere denkbare Kriterium.

Diese spezifische Bindung geht auf die Zeiten des wilhelminischen Kaiserreichs zurück. Im Zuge der Implementation einer germanischen Nationalmythologie, die per se dem Christentum entgegensteht, und der Ausrichtung des 1866/1871 entstandenen kleindeutschen Reiches auf den preußisch-protestantischen Militärstaat, erschienen die Katholiken als »reichsfremd«, letztlich »undeutsch«. Sie hingen aus dieser Sicht einer allzu jüdischen Schwächlingsreligion an, deren Grundsätze obendrein von Italienern aus dem ­Vatikan diktiert wurden.

Dass der ­Katholizismus in den vergangenen Jahrzehnten an Bindungskraft verloren hat, stärkt weniger die Aufklärung, sondern in ­paradox scheinender Weise eher die Gegenaufklärung.

Auch in der Weimarer Zeit blieben die preußisch-protestantischen Konservativen, die in ihrer Republikfeindlichkeit im Zweifel die Gewaltherrschaft jeder christlichen Tradition vorzogen, den katholischen Konservativen spinnefeind. Letztere waren durch eine ­eigene Partei vertreten, das Zentrum, das sowohl Kaisertreue als auch Verfechter einer »Konservativen Revolution« von Herzen verabscheuten. Anders als diese Konservativen, die man im Sinne Adornos als »pseudokonservativ« bezeichnen müsste, sprich: ­deren konservativer Habitus militant-aggressive Absichten lediglich bemäntelt, stand das Zentrum loyal zur Republik, die den Katholiken im Rheinland und Süddeutschland den Wilhelminismus vom Hals geschafft hatte. Diese Loyalität hatte Bestand trotz der in diesen Milieus verbreiteten Vorbehalte gegen die in Fragen von Geschlechterrollen und Sexualmoral als zu progressiv empfundene Gesetz­gebung der frühen Weimarer Zeit. Die Zustimmung zur NSDAP lag bei den Reichstagswahlen der späten Weimarer Jahre in den katholisch geprägten Regionen jedenfalls deutlich niedriger als im Durchschnitt.

Der Nationalsozialismus sollte die im Kern barbarischen Phantasien der »Konservativen Revolution« auf blutigstmögliche Weise in die Tat umsetzen. Bei der schwierigen Suche nach restzivilisierten und restvernunftfähigen Konservativen in Deutschland konnten die Westalliierten nur beim politischen Katholizismus fündig werden. Die entstehende Christdemokratie wurde nach Kräften ge­fördert, bei ihr mussten denn auch diejenigen Konservativen unterschlüpfen, die zuvor Kaiser und Führer zugejubelt hatten – und sich dementsprechend mäßigen.

Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die deutschen Verhältnisse, dass diese Mäßigung offenbar nur um den Preis von Prüderie und Traditionalismus zu erzielen war. Was an der Ära Adenauers als re­staurativ aufstößt – Verklemmtheit und Familienidyllisierung –, muss wohl so gedeutet werden, dass die Enthemmung der Nazi-Zeit nur durch neuerliche restriktive Hemmung einigermaßen zurück­zunehmen war, dass sich sozusagen der Verzicht auf Rassenhass nur mit Masturbationsverboten bewerkstelligen ließ.

So fragil diese psychische Konstellation auf lange Sicht sein musste, so unzuverlässig erweist sich auch die Zähmung der auf Volk und Vaterland geeichten Pseudokonservativen. Dass der ­Katholizismus in den vergangenen Jahrzehnten an Bindungskraft verloren hat, stärkt deshalb weniger die Aufklärung, sondern in ­paradox scheinender Weise eher die Gegenaufklärung.

Noch greift die Bremse des bundesrepublikanischen Christdemokratismus ein wenig, doch sie lockert sich zusehends: Katholiken, die durch den Beitritt der DDR, mithin des preußischen Kernlands, ohnehin an demographischem Gewicht eingebüßt haben, wählten auch bei der vergangenen Bundestagswahl ebenso überdurchschnittlich die Union wie unterdurchschnittlich die AfD, doch die Zahlen liegen nicht mehr so weit auseinander wie früher.

Dass die AfD bei dieser Bundestagswahl in erzkatholischen Gegenden wie dem Eichsfeld in Thüringen oder der Region ums niederbayerische Deggendorf nah an 30 Prozent herankam, zeigt an, dass die Fähigkeit der Union, den Pseudokonservativismus zu integrieren, rapide schwindet. Mit Rhetorik und Symbolpolitik, wie schrill auch immer, lässt er sich, anders als Merz und Dobrindt – beides Katholiken – hoffen, nicht mehr einfangen.