»Eine gute Partie für die Psychoanalyse«
Fritz von Klinggräff: Im Juni dieses Jahres wäre Frantz Fanon 100 Jahre alt geworden. Eine kurze, wichtige Zeit seines Lebens – als er zwischen 1955 und 1961 in Algerien und Tunesien die Psychiatrie revolutionierte und sich der Unabhängigkeitsbewegung Algeriens anschloss – haben Sie ihn als junge Medizin- und Psychiatriestudentin begleitet. Aber Ihrer beider Wirken bleibt darüber hinaus verbunden. Erst im vergangenen Jahr ist Ihre fulminante Biographie Fanons in Deutschland in einer Neuübersetzung erschienen.
Alice Cherki: Es ist nicht ganz falsch, mein Zusammentreffen mit Frantz Fanon und meinen Lebensweg in einem Atemzug zu nennen. 1954 begann ich als 18jährige mein Medizinstudium und begegnete Fanon schon sehr früh, 1955, im Rahmen meiner ersten Berufspraktika. Das gab meinem Leben zweifellos eine entscheidende Wende – nicht nur beruflich, auch politisch. Er begleitet mich bis heute. Auch jetzt war ich wegen seines 100. Geburtstags ein paar Mal in Deutschland. Die Neuübersetzung meiner Fanon-Biographie ins Deutsche ist übrigens sehr viel besser als die erste von 2002. Außerdem ist im April 2025 Jean-Claude Barnys Biopic »Fanon« in Paris angelaufen. In diesem Rahmen waren wir nach Köln eingeladen.
Klinggräff: Sie waren ja schon in den späten fünfziger Jahren in Deutschland: als Psychiatriestudentin für ein Jahr an der Charité in Ostberlin. Aufgewachsen sind Sie in den dreißiger, vierziger Jahren als sephardische Jüdin in Algier. Also zum nicht geringen Teil im Zweiten Weltkrieg. Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Algerien?
»In Frankreich gab es in meinem Bekanntenkreis mindestens fünf oder sechs befreundete Familien, aus deren Mitte jemand deportiert worden war.«
Cherki: Sehr genaue. Aber nicht an die Deutschen. Algerien wurde ja nicht durch Nazi-Deutschland besetzt. Die Amerikaner kamen ihnen zuvor. Anders als im französischen Protektorat Tunesien …
Ronald Hirte: … von wo aus Juden in die Konzentrationslager der Nazi-Deutschen deportiert wurden.
Cherki: Ja, es gab Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Tunesien, obwohl der Bey von Tunis versuchte, dies zu verhindern oder hinauszuzögern. Sogar einige Muslime wurden deportiert. In der französischen Kolonie Algerien war die Situation anders: Hier herrschte die französische Kollaborationsregierung. Und General Pétain kippte gleich 1940 das sogenannte Décret Crémieux von 1870, das die Juden den Franzosen gleichstellte. Seitdem galten wir nicht mehr als französische Staatsbürger und ich war in den laizistischen Bildungseinrichtungen der Republik nicht mehr erwünscht. Meine Lehrerin im Kindergarten sagte mir das vor der versammelten Klasse ins Gesicht: Ich sei Jüdin und bräuchte nach Weihnachten nicht mehr wiederkommen. Einige Aktivisten wurden verhaftet und in Lager gesteckt, dieselben Leute übrigens, die später im Algerien-Krieg erneut in den Lagern der Franzosen landeten. Deportationen gab es dagegen keine aus Algerien. Anders als aus Frankreich, von wo aus auch algerische Juden in die deutschen KZ kamen.
Hirte: Allein in der Gedenkstätte Buchenwald wissen wir von mindestens 300 Häftlingen algerischer Herkunft: Muslime, Juden, Christen. Auch Frauen waren dabei.
Cherki: In Frankreich gab es in meinem Bekanntenkreis mindestens fünf oder sechs befreundete Familien, aus deren Mitte jemand deportiert worden war. Aber niemand mit muslimischen Wurzeln, sondern Europäer. Natürlich gab es auch die algerischen Juden, die schon vor 1940 in Frankreich lebten, also Franzosen, aber sie wurden nicht als Algerier wahrgenommen. Und es brauchte eine geraume Zeit, bis sich als Wissen in Frankreich durchsetzte, dass auch nordafrikanische Juden deportiert worden waren.
Hirte: Diese Gruppe scheint in der französischen Erinnerungskultur bis heute kaum eine Rolle zu spielen.
Cherki: Das sehen Sie wahrscheinlich richtig. Ich erinnere mich daran, dass der Bruder der Shoah-Historikerin Annette Wieviorka uns einmal einen Zeitungsartikel zeigte, in dem es hieß, in Nordafrika seien die Juden in der Nazi-Zeit verschont geblieben. Die Sepharden wurden in Frankreich lange Zeit weder für voll genommen noch waren sie als Opfergruppe angesehen. Als ich meine Prüfungen als Psychiaterin machte – um Psychoanalytikerin zu werden –, gab es einen ungarischen Prüfer, der mich beim Rausgehen fragte, ob ich denn sicher sei, nicht doch ein bisschen aschkenasisches Blut in den Adern zu haben: »Für eine Sephardin sind Sie außergewöhnlich begabt!«
Klinggräff: Nicht zufällig scheinen viele sephardische Juden, die nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich gingen, ihre Kindheit in Nordafrika eher für lange Zeit verdrängt zu haben. Manche besannen sich erst als ältere Menschen auf ihre nordafrikanische Herkunft. Ich denke dabei an Intellektuelle wie Hélène Cixous oder Jacques Derrida, die sich – im Alter – verstärkt ihrer algerisch-französischen Erinnerung gestellt haben. Cixous knüpft dabei bis heute an einem komplexen Netz zwischen Osnabrück, dem Herkunftsort ihrer Mutter, und Oran, wo sie aufwuchs.
Cherki: Hélène Cixous ist eine gute Freundin; wir sprechen oft darüber. Schon unsere Kindheit verlief ähnlich. Und Derridas Eltern lebten nur wenige Schritte von den meinen entfernt, ich kannte ihn als Jugendliche persönlich – auch wenn er sechs Jahre älter war als ich. Er war sehr schön und ein bisschen links. Ich erinnere mich an ein Volksfest, zu dem er als Student aus Paris kam und bei dem ich mit ihm – noch ein Teenager – Tango tanzte. Unsere Familien glichen sich. Im kolonialen Algier wurden engere Bindungen ja eigentlich nur in den Sphären der jeweiligen Zugehörigkeit geknüpft.
Hirte: Wohnte auch Ihre Familie – wie die Derridas – zwar in einem europäischen Viertel von Algier, aber an der Grenze zu einem arabischen Viertel?
Cherki: Bis zu meinem 18. Lebensjahr wohnten wir in einem eher einfachen Viertel von Algier. Dort, in einem jüdischen Viertel, habe ich meine ganze Kindheit verbracht, umgeben von wohlhabenderen Muslimen. Danach baute meine Großfamilie ein Haus in Hydra, oberhalb von Algier: mit der Schwester meines Vaters und ihrer Familie in der ersten Etage, meiner Familie im zweiten Stock, und oben wohnte mein Onkel, der Bruder meines Vaters mit seiner Familie. Wer mehr über algerische Kindheiten vor dem Unabhängigkeitskrieg wissen will, dem empfehle ich Leïla Sebbars Sammelband »Une Enfance algérienne« (Eine algerische Kindheit). In den dreißiger Jahren gab es in den Schulen keine strikte Trennung von Muslimen, Christen oder Juden. Ab 1940 unter der Vichy-Regierung war ich dann in einer jüdischen Schule – um dort wieder die Fabeln von Jean de La Fontaine zu lesen. Wir wurden ja von Jüdinnen und Juden unterrichtet, die ihre pädagogische Ausbildung im französischen Schulsystem gemacht hatten und nun ebenfalls davon ausgeschlossen wurden. Also traktierten sie uns wie zuvor mit ihrer französischen Grammatik. Als die Alliierten im November 1942 in Algerien landeten und de Gaulle die Vichy-Administration verdrängte, kam ich bald darauf aufs Lycée und hatte dort keine Probleme, wieder Anschluss zu finden. Im Gegenteil: Wir waren dem Lehrplan zwei Jahre voraus.
Von meinen muslimischen Freundinnen aber war nun niemand mehr da. Entweder schickte man sie auf die Berufsschule – oder ihre Eltern nahmen sie ganz von der Schule. Die Trennung war vollzogen. Wir aber spielten weiter unsere Kinderspiele mit ihnen, als würde die Welt sich niemals ändern. Und Frankreich war für mich sehr, sehr weit weg – die Welt der Bücher: Molière, Racine, Gide und Proust, den ich dann bald von Anfang bis Ende durchlas.
Klinggräff: Wann entwickelten Sie das Gefühl, dass es die Franzosen waren, die nicht wirklich nach Algerien gehören? Gab es bei Ihnen so etwas wie einen entscheidenden antikolonialen Impuls?
Cherki: Wahrscheinlich hatten meine Erfahrungen mit dem Schulverweis mich doch nachhaltig geprägt. Ich hatte meine Unschuld verloren. Ich sah in Algier die schönen Viertel, in denen die wohlhabenden Europäer lebten, und sah auch die muslimischen Frauen, die aus der Kasbah kamen (der Altstadt, später eine Hochburg der Unabhängigkeitsbewegung; Anm. d. Red.). Sie gingen wie Schatten durch diese Viertel, um als Putzfrauen zu arbeiten. Auch die Docker im Hafen waren überwiegend Muslime und alle muslimischen Schulfreundinnen waren, wie gesagt, verschwunden, als ich mit zehn oder elf Jahren ins Gymnasium kam. Ich hatte mich also einfach umgeschaut und irgendwas stimmte in meiner Wahrnehmung nicht mehr.
Hirte: Mit 18 Jahren kam dann also »die Wende« in Ihrem Leben: Sie begannen Medizin zu studieren und trafen Ende 1955 bei Ihrem ersten Praktikum in Blida – und 1958 noch ein zweites Mal, in Tunis, vor Ihrem DDR-Stipendium – auf Frantz Fanon, den jungen Psychiater aus Martinique. Worin bestanden das Neue, als Sie als junge Studentin mit Fanon an einer Reform der Psychiatrie im französischen Algerien arbeiteten?
Cherki: Blida-Joinville war eine psychiatrische Einrichtung nach französischem Vorbild. Es gab den Pavillon für die europäischen Frauen, den Pavillon für europäische Männer, den Pavillon für die indigenen Frauen und einen für die einheimischen Männer. Ein Psychiater war jeweils für mehrere Stationen verantwortlich, und als Fanon kam, betreute er als Stationsarzt die indigenen Männer und die europäischen Frauen. Zusammen mit einem zweiten, eher links eingestellten französischen Arzt war Fanon ansonsten umgeben von lauter Rassisten aus der Psychiatrie-Schule Antoine Porots in Algier, der die These vertrat, dass die Großhirnrinde nordafrikanischer Eingeborener wenig entwickelt sei und ihr Leben vor allem durch das Zwischenhirn geregelt werde. Nicht wenige der Psychiater in Blida kamen aus der Porot-Schule und vertraten die gleichen Ansichten: Die Europäer würden mit dem Kortex, die Indigenen hingegen mit dem Zwischenhirn funktionieren, was Letztere auf eine einfache, instabile Persönlichkeitsstruktur und ein eingeschränktes logisches Vermögen reduziere.
Wir waren eine kleine Gruppe von vier bis fünf Leuten, die Fanon auf seinem Weg, diese Strukturen aufzubrechen, nach kurzem Zögern folgten – ich selbst natürlich als reine Anfängerin. Die Krankenschwestern waren zum größten Teil gebürtige Algerierinnen – nur zwei kamen aus Europa und waren Kommunistinnen. Sie waren ziemlich verstört und fragten sich, was dieser Fanon – »ein Neger!« – da mache und warum er, bitte schön, alles auf den Kopf stelle. Fanon baute dann vor Ort eine Schule für die Krankenschwestern auf. Am Ende aber liebte das Pflegepersonal Fanon durch die Bank. Wir waren ja alle noch sehr jung – selbst Fanon war erst 30 Jahre alt.
Hirte: War auch die Psychoanalyse in dieser Zeit schon eine Therapieform für Fanon?
»Am Ende liebte das Pflegepersonal Fanon durch die Bank. Wir waren alle noch sehr jung – selbst Fanon war erst 30 Jahre alt.«
Cherki: Die Analyse als solche wurde noch nicht praktiziert. Fanon hat ja auch nie eine Lehranalyse gemacht, obwohl ihn dies sehr interessiert hätte. Wir sprachen von Psychotherapie, oder eher von sozialen Therapieformen nach François Tosquelles, dem genialen spanischen Psychiater auf Seiten der Republikaner, der nach dem Bürgerkrieg in Frankreich Asyl erhalten und nahe der spanischen Grenze eine neue Klinik, die Klinik Saint-Alban, aufgebaut hatte. Sie existiert noch heute. Tosquelles hat in Saint-Alban während des Zweiten Weltkriegs vielen Flüchtlingen, aber auch vielen Geisteskranken, die man sonst hätte verhungern lassen, das Leben gerettet. Seine Therapieform hatte kaum noch etwas mit der traditionellen Psychiatrie, im Sinne einer Medikamentierung und Stillstellung der Patienten, zu tun. Heute spricht man von der sogenannten institutionellen Psychotherapie, wenn man Tosquelles’ Methode meint. Zentrales Ziel ist, den Ort, an dem man sich befindet, aktiv mit einzubeziehen.
Klinggräff: Und Fanon hat sich davon für seine Arbeit in Blida inspirieren lassen?
Cherki: Ja – und vor allem im Pavillon der Europäerinnen funktionierte diese Therapie sehr gut. Sie führten sogar Theaterstücke auf und gründeten eine Zeitung. Bei den Bewohnern des anderen Pavillons, für den wir verantwortlich waren, in dem vor allem Männer aus den Dörfern in den Bergen kamen, kam Fanon mit den institutionellen europäischen Therapieformen nicht wirklich weiter und besorgte sich deshalb Dinge aus ihrem traditionellen Umfeld: beispielsweise ein maurisches Café, in dem man Domino spielen und kabylische Musik hören konnte. Außerdem ließ er einen Fußballplatz anlegen, an dem auch er selbst sehr viel Freude hatte, und er ließ die kleine Moschee vor Ort, die lange Zeit nur noch als Scheune gedient hatte, wieder öffnen. Er lud einen sehr berühmten kabylischen Sänger ein und legte eine Bibliothek für die Internierten an. Das alles an einem Ort, an dem die Insassen der Pavillons noch kurz zuvor behandelt worden waren wie Schwerverbrecher: Man band sie an Bäumen fest, sperrte sie im Keller in Einzelzellen. Die Psychiater aus der Porot-Schule, die Fanons Tun von weitem beobachteten, fassten sich nur noch an den Kopf: »Wofür hält der sich!?«
Wir setzten diese psychiatrische Arbeit, die von der politischen Arbeit im revolutionären Algerien gar nicht zu trennen war, bis Ende 1956 fort – oft belästigt durch das französische Militär und die Polizei. Sie ahnten wohl, dass bei uns in der kleinen chirurgischen Abteilung der Psychiatrie auch verwundete Untergrundkämpfer versorgt wurden. Ende 1956 wurde Frantz Fanon dann von den Franzosen aus Algerien ausgewiesen. Aber schon 1958 traf ich ihn wieder: in Tunis, wo er seine Arbeit an der Psychiatriereform weiterführte und dabei eng mit der provisorischen Regierung der algerischen Republik zusammenarbeitete.
Klinggräff: Sie aber schickte er in die DDR!
»Mir persönlich ging es in Ostberlin großartig. Auf dem Alexanderplatz, auf dem sich damals eine Bar an die andere reihte, trank ich mein erstes Glas Wein.«
Cherki: Ja. Er hatte ein Stipendium für mich aufgetan. Eines Tages stand er plötzlich vor mir und sagte, dass ich mein Studium nun in Ostberlin beenden müsse. Ich weiß bis heute nicht, ob er es wirklich selbst war, der den Vorschlag gemacht hatte. Aber er war es, der Druck machte, dass ich das Stipendium bekomme, und er wusste, wie man die Entscheidungsträger überzeugt. Ich hatte damals meine fünf Jahre Medizinstudium absolviert und war auf dem Sprung, mit der Psychiatrie zu beginnen. Erst in Blida, in Algerien, dann in Tunesien hatte ich meine ersten Erfahrungen gesammelt. In Sfax hatte ich die Familie von Jeanne Favret-Saada (der in Tunesien geborenen französischen Ethnologin; Anm. d. Red.) kennengelernt, danach war ich in Tunis Fanons Assistentin in der psychiatrischen Tagesklinik des Krankenhauses Charles Nicolle. Für das künftige Algerien und den Aufbau seiner Psychiatrie war ich sozusagen eine gute Partie.
Hirte: Wie haben Sie die DDR erlebt?
Cherki: Ich war damals gerade mal 23 Jahre alt. Wir waren im »Institut für Ausländer« untergebracht. Ich wohnte zusammen mit einer Nordvietnamesin in einem kleinen Zimmer. Natürlich gab es noch die Mauer; aber von meinem Arbeitsplatz in der Charité waren es über den U-Bahnhof Friedrichstraße gerade mal zwei Stationen bis in den Westen. An der Charité war ich befreundet mit einem Kreolen, der in Westberlin gute Freunde hatte. Hin und wieder besuchte ich diese Leute. Ostberlin lag ja noch in Ruinen, damals. Und vor allem: im Dunklen! Selbst rund um die Universität. Westberlin hingegen war schon wieder völlig aufgebaut – im amerikanischen Stil, lichterglänzend. Und ich fragte mich oft, was ich eigentlich beunruhigender finde.
Hirte: Waren Sie die einzige Algerierin?
Cherki: Nein, längst nicht. Aber natürlich kamen wir für die Deutschen im Ostteil trotzdem von einem anderen Stern. Sie waren wirklich liebenswert – aber wenn man eine dunkle Haut hatte, dann konnte es einem passieren, dass kleine Kinder in der S-Bahn versuchten, die Farbe abzureiben. An der Charité traf ich auf Professoren zweierlei Art: Der eine, der Experte für Psychiatrie und Neurologie, kam aus dem Westen und ich fragte mich bei ihm so manches Mal, ob er nicht einfach hier war, weil er im Westen keine Chance auf einen solchen Posten gehabt hätte. Eine absolute Null! Andererseits gab es bewundernswerte Koryphäen wie Hegemann (Dietfried Müller-Hegemann gehörte zum kommunistischen Widerstand gegen den NS und gilt als eine der wichtigen Persönlichkeiten der Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre; Anm. d. Red.), der sich zugleich ständig Vorwürfe wegen der Nazi-Verbrechen machte. In den Archiven der Charité zeigte er mir die geheimen Listen der Geisteskranken, die im Rahmen der Euthanasie ermordet werden sollten.
Als damals 23jährige traf ich auch auf Victor Klemperer, konnte ein bisschen mit ihm sprechen und war fasziniert von seiner intellektuellen Ausstrahlung. Genauso wie von Brecht am Schiffbauerdamm oder von der Oper. Das waren geniale Orte. Ich verstand nicht, warum die Leute sich ständig beschwerten. Diese Klagen klangen so einförmig, als wären sie von außen organisiert. Mir war der Westkonsum doch total egal! Wenn ich was zum Anziehen brauchte, fand ich in den Geschäften schnell irgendwas Handgenähtes, was mir gefiel. Ich persönlich fand es eher beeindruckend, wie es einem einfachen Arbeiter möglich war, auf der Karriereleiter aufzusteigen, dass er studieren durfte und wie viel Hochachtung man ihm staatlicherseits entgegenbrachte.
Natürlich fand ich es sehr merkwürdig, dass die Leute nicht in den Westen reisen durften. Aber davon abgesehen: Mir persönlich ging es in Ostberlin großartig. Auf dem Alexanderplatz, auf dem sich damals eine Bar an die andere reihte, trank ich mein erstes Glas Wein. Alle Algerier und Algerierinnen, die damals als Stipendiaten in Ostberlin waren, sind noch heute voll des Lobes über diese Zeit.
Hirte: Andererseits gab es wenige Jahre später Pogrome gegen Migranten, zum Beispiel 1975 in Erfurt, wo algerische Vertragsarbeiter durch die Stadt gejagt wurden, weil sie angeblich deutsche Frauen belästigt hatten.
Cherki: Ja, ich erinnere mich an die Berichte. Das war nach meiner Zeit.
Hirte: Erschien Ihnen das antikoloniale Engagement der DDR damals glaubwürdig?
Cherki: Nicht wirklich. In Algerien glaubte man daran. Aber ich merkte natürlich sofort, dass man sich in Ostberlin nicht für Algerien interessierte. Es ging um die Unterstützung der Bruderstaaten bei ihrem Kampf für die Unabhängigkeit – doch das war eher oberflächlich. Algerien war wirklich nicht ihr Problem, selbst nicht das der kultivierten Leute. Ich war im Grunde nur interessant, weil ich exotisch war.
Klinggräff: Ungefähr zur selben Zeit, um 1960, verließen die algerischen Juden ihre Heimat. Wann war das genau? Erst 1962, nach der algerischen Unabhängigkeit?
Cherki: Ja – und es war anfangs weniger die Algerische Befreiungsbewegung FLN, sondern die französische Terrororganisation OAS, die sich im Januar 1961 nach dem Referendum über die algerische Selbstbestimmung gegründet hatte und unter dem Slogan »Koffer oder Sarg!« Druck auf die Juden ausübte, das Land zu verlassen.
Hirte: In dieser Zeit, gegen Ende des Unabhängigkeitskriegs, brachten viele, auch Jacques Derrida oder Alfred Nakache, ein Auschwitz- und Buchenwald-Überlebender, ihre Eltern dazu, Algerien zu verlassen – gegen deren eigenen Willen.
Cherki: Auch mein Vater wollte bleiben! Aber die Lage war inzwischen so angespannt, dass sich in Algerien selbst alte muslimische Bekannte von ihm abwandten oder ihn sogar bedrohten. Ein Kollege fuhr ihn an: »Verschwinde – deine Sachen kannst du da lassen!« Für ihn brach eine Welt zusammen. Er war damals schon fast 60 Jahre alt und hatte nicht die Absicht, Algerien zu verlassen. Er selbst kam aus Medea und seine Familie hatte dort über viele Generationen gelebt. Er war eher Algerier als Franzose.
Letztlich blieb nur einer meiner Klassenkameraden noch länger in Algier, der Musikjournalist Pierre Chichi. Als Kinder waren wir uns sehr nah und mit seinem Tod im Mai 2004 tauchten noch einmal intensive Bilder meiner Kindheit aus meinem Gedächtnis auf: das Baden an der Pointe-Pescade (das heutige Raïs Hamidou; Anm. d. Red.), die Spaziergänge durch die Straßen von Algier in den Schulferien, die Seidenraupen auf dem Balkon seiner Eltern. Sie wohnten auf dem obersten Treppenabsatz, der in der Rue Ben M’hidi – damals hieß sie Rue d’Isly – an den alten Kaufhäusern entlangführt, die heute das MAMA, das Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst Algier, beherbergen.
Pierre veranstaltete in den sechziger Jahren in Algier noch die großen panafrikanischen Festivals mit schwarzen Musikern aus Nordamerika; seine Radiosendung »Jazz de hier et d’aujourd’hui« (Jazz von gestern und heute) mit Youssef Omar war in diesen Jahren Kult. Aber auch ihm wurde 1970 mitgeteilt, dass er in Algerien nichts mehr zu suchen habe.
Die Konsolidierung des Staats Israel bot der algerischen Regierung in diesen Jahren eine gute Gelegenheit, sich der Juden, also eines unbequemen, eher fortschrittlich denkenden und oft atheistischen Teils ihrer Bevölkerung, zu entledigen.
Klinggräff: Und wie erging es Ihnen selbst?
Cherki: Auch ich entschied mich, in Paris zu bleiben, obwohl meine Lage nicht die gleiche war. Zwischen März und Juli 1962, als die meisten flüchteten, war ich ja aus Tunesien nach Algerien zurückgekehrt – auf der Seite der algerischen Befreiungsbewegung. Ich übernahm eine Stelle in einer algerischen Psychiatrie, die von den Franzosen fluchtartig verlassen worden war – natürlich nicht ohne dass sie alle Medikamente und alle europäischen Patienten mitgenommen hätten. Als Aktivistin war ich damals eigentlich bereit, mich voll für diesen neuen Staat einzusetzen. Aber ich hatte mein Studium noch nicht beendet, außerdem wollte ich eine Lehranalyse machen. Also ging ich nach Frankreich – mit der festen Absicht, danach beim Aufbau des Landes mitzuhelfen.
»Frantz Fanon hat mit seinen Befürchtungen von damals recht behalten. Heute regiert in Algerien ein Regime, das sich auf die Armee und die Polizei stützt und vor allem auf Putin setzt.«
Aber mit dem Staatsstreich von Houari Boumedienne 1965 wusste ich, dass ich zwar gerne etwas für das Land tun will, dort aber nicht mehr hingehöre. Wie alle meine Freunde hatte ich von einem weltoffenen, demokratischen Algerien geträumt. Dieser Traum war mit der Verhaftung und Folterung der Studierenden ausgeträumt – ein Militärputsch war es nicht, was wir uns für Algerien erhofft hatten. Aber natürlich blieb ich vielen meiner Freunde und Vertrauten in Algerien eng verbunden und habe bis heute enge Kontakte nach Algier. Ich habe ja den algerischen Pass und damit nicht die Probleme vieler meiner französischen Kollegen, zu Kongressen ins Land zu kommen. Nicht zuletzt wegen dieser Reisebeschränkungen aber gibt es das intellektuelle Leben in Algerien, das einst so rege war, heute nicht mehr. Jeder lebt in seiner kleinen Nische. Das ist sehr, sehr schade.
Frantz Fanon hat mit seinen Befürchtungen von damals recht behalten. Heute regiert in Algerien ein Regime, das sich auf die Armee und die Polizei stützt und vor allem auf Putin baut. Die Einheitspartei ist ein bürokratischer Apparat, die Minderheiten werden unterdrückt und die Menschenrechte missachtet.
Hirte: Dennoch haben auch Sie mehrfach betont, Sie hätten Algerien nie wirklich verlassen.
Cherki: Wenn ich an das heutige Algerien denke, fällt es mir manchmal schwer, das noch so zu sehen. Und dennoch habe ich Algerien wohl wahrhaftig nie ganz verlassen.
Klinggräff: Mit dem heutigen Algerien wollen Sie hingegen nichts mehr zu tun haben?
Cherki: Ganz so kann man das natürlich nicht sagen: Ich habe vor nicht allzu langer Zeit hier in Paris ein Netzwerk von Analytikerinnen und Analytikern auf die Beine gestellt, an dem auch einige Psychoanalytikerinnen aus Algerien teilgenommen haben – allesamt Frauen –, mit denen wir uns weiterhin austauschen und auch in Algier Kolloquien veranstalten.
Hirte: Sie arbeiten nun seit langem als Psychoanalytikerin und Autorin in Paris und haben mit Ihrer Fanon-Biographie, aber vor allem mit Ihrem Buch »Die unsichtbare Grenze«, das von Gewaltformen im Rahmen der Immigration handelt, viel Aufmerksamkeit erregt. Dabei beschäftigten Sie sich sowohl mit der Situation jüdischer Kinder während des Zweiten Weltkriegs und den Traumata ihrer Nachkommen als auch mit der algerischen Migration. Gehörten zu Ihren Patienten und Patientinnen in Paris auch Rückkehrer aus deutschen Konzentrationslagern?
Cherki: Eher die Nachkommen der Deportierten. Kinder, Nichten, Neffen. Viele jüdische Kinder hatten in den Konzentrationslagern, wo sie ohne Eltern unter der Herrschaft einer fremden und lebensgefährlichen Fremdsprache aufwuchsen, erlebt, dass ihnen die Möglichkeit der Versprachlichung wortwörtlich genommen wurde. Durch ihr Schweigen nach 1945 mussten ihre Nachkommen dieses Trauma später nochmals nacherleben.
Klinggräff: Als ein intergenerationelles Trauma?
Cherki: Ja, das war kein seltenes Phänomen, wenn die Eltern ihre Erlebnisse vor ihnen bewusst verschwiegen. Beispielsweise hatte ich eine Patientin, deren Tante deportiert worden war und aus dem Zugfenster noch einen letzten Brief an ihren Verlobten geworfen hatte. Viele Jahre später – er führte längst ein ganz anderes Leben – übergab dieser den Brief dem Vater meiner Patientin, also dem Bruder jener jungen Frau, die nie zurückgekommen war. Auch der Vater meiner Patientin verbarg ihn vor seinen Kindern, bis sie erwachsen waren. So lag über der ganzen Geschichte ein jahrzehntelanges Schweigen. Als die junge Frau zu mir kam, war sie stark traumatisiert. Jedes Mal, wenn die Tram an meiner Praxis vorbeifuhr, unterbrach sie ihre Rede und sprang förmlich auf. So, als führe jener Zug von damals vorbei. Sie trug das Verschwinden ihrer Tante weiter mit sich herum.
Hirte: Gab es auch Traumata aus kolonialen Kontexten, die sich in Ihrer Arbeit auftaten?
Cherki: Natürlich. Es ist doch kein Wunder, dass sich die jungen Menschen in den Banlieues in ihrer Haut nicht wohl fühlen. Das ist insbesondere das Thema meines Buchs über die psychischen Gewaltformen der Immigration. Sie entstehen, wenn man die Menschen nicht wirklich annimmt. Für die Nachkommen all derer, die sich nach der algerischen Unabhängigkeit gegen ihren Willen in Frankreich wiederfanden, bot die dortige gesellschaftliche Realität keine symbolischen Anknüpfungspunkte, um sich in ihr einzurichten und eigene Spuren zu hinterlassen. Insofern ist es mir immer wichtig zu betonen, dass ihre Traumata auch eine politische Dimension haben. Diesen Menschen bietet die französische Sprache keinen Schutz; sie ist weder ein Aufnahmeort für sie, noch ist sie ein Ort, an dem sie sich frei bewegen können. Aber es gibt auch keine andere Sprache, die für sie noch da wäre.
Hirte: Wie ließe sich ein solcher Mangel an lebensgeschichtlichen Einschreibungen ausgleichen?
Cherki: Diese Menschen müssen den Weg selber finden und gehen. In Deutschland war das doch genauso.
Klinggräff: Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis hier eine intensive Arbeit an der Erinnerung begann. Auch verbunden mit großen Gewaltausbrüchen.
Cherki: Diese Zeit habe ich intensiv mitverfolgt. Aber hat sich die Erinnerungsarbeit in den einzelnen Familien wirklich niedergeschlagen? Ich bin mir da nicht sicher.
»Bewegungen wie die Indigènes de la République, die sich als linksidentitär verstehen, sprechen den jungen Nachkommen des Algerien-Kriegs in den Banlieues quasi ihre französische Identität ab.«
Hirte: Gibt es in Frankreich bei der dritten Generation der Harkis und Pieds-noirs, also den Nachfahren der algerischen Gehilfen der französischen Armee und den Algerien-Franzosen, die nach dem Algerien-Krieg nach Frankreich übersiedelten, heute nicht auch eine andere Tendenz? Diese Generation scheint mir politisch aktiver zu sein als noch die direkten Nachkommen der Geflüchteten.
Cherki: Leider ereignet sich dabei aber eine echte Tragödie. Bewegungen wie die Indigènes de la République, also die sogenannten postkolonialen Antikolonialen, die sich als linksidentitär verstehen, sprechen den jungen Nachkommen des Algerien-Kriegs in den Banlieues ja quasi ihre französische Identität ab. Selbst wenn diese hier geboren sind und Franzosen sein wollen. Stattdessen weisen sie ihnen mit ihrer abstrakten Idee von einem kolonialen Ursprung eine Identität zu, mit der sie lebensgeschichtlich gar nichts anfangen können. In Frankreich ist diese Bewegung im Moment sehr aktiv. Zum Teil bezieht sie sich dabei auf Frantz Fanon – ein Fehlschluss! Frantz Fanon kämpfte für einen neuen Universalismus.
Hirte: Er hat diese Wendung aber vorausgeahnt, oder?
Cherki:: Und er hielt sie für eine große Gefahr! Insbesondere, weil den jungen Leuten als Alternative zu einer kritischen Identität als Franzosen die muslimische Identität angeboten wird. Das verhindert aber, dass sie sich mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer Gegenwart auseinandersetzen. Selbst wenn ihre Eltern gemischt algerisch-französischen beziehungsweise katholisch-muslimischen Ursprungs sind und in ihrer Lebensweise völlig säkularisiert, sorgen diese dekolonialen Bewegungen – die ihren Ursprung in den USA haben – dafür, dass ihre Kinder sich sagen: Wenn ich nicht französisch bin, dann muss ich zu meinen Wurzeln zurückkehren – also zum Islam. Sie werfen ihren Eltern vor, sich von ihrer Religion abgewandt zu haben, und sehen sich plötzlich als die Helden einer Rückkehr zu ursprünglichen Werten. Ich frage mich, ob der Aufstieg des Nazismus nicht auf ähnlichen Mechanismen beruhte.
Hirte: Da gibt es sicherlich Ähnlichkeiten.
Cherki: Es handelt sich um Bewegungen, die sich ganz bewusst an junge Menschen richten. Auch im Alltag aber habe ich heute oft den Eindruck, dass für die Menschen der oder die andere (l’autre) nicht mehr existiert. Oder schlimmer: dass sie für sie nur noch Feinde sind. Damit stehen wir am Abgrund eines fundamentalen Konflikts.
Klinggräff: Politisch?
Cherki: Auch gesellschaftlich. Viele Jugendliche haben sich vollständig auf ihre digitalen Geräte zurückgezogen, in denen der oder die andere keine Rolle mehr spielt. Dieses gesellschaftliche Phänomen nimmt an Fahrt auf.
Klinggräff: Ist das auch in Ihrer Arbeit als Psychoanalytikerin spürbar? Verändern sich Ihre Patienten?
Cherki: Einerseits ja. Andererseits wollen Menschen, die sich auf eine Analyse einlassen, diesen Tendenzen geradezu entkommen. Sie suchen etwas anderes als die, die zum Verhaltenstherapeuten laufen, um zu lernen, wie man erfolgreich durchs Leben kommt. Bei mir finden sie da nichts.