29.05.2025
Bundeskanzler Merz verspricht »CDU pur«, doch in dieser streiten sich die Lager

Fliehkräfte einer Volkspartei

Mit Friedrich Merz sollte es wieder »CDU pur« geben. Doch schon jetzt gibt es Kritik an seiner Führung, sowohl von der Parteirechten als auch vom Arbeitnehmerflügel, während ostdeutsche CDUler eine putinfreundlichere Politik fordern. Merz muss eine Partei zusammenhalten, deren Flügel in ganz unterschiedliche Richtungen streben.

Zum 20. Mal jährte sich dieser Tage ein Ereignis, das auf den ersten Blick wenig mit der neuen Bundesregierung zu tun hat, aber helfen kann, heutige politische Entwicklungen zu verstehen: Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005. Jürgen Rüttgers gewann damals erstmals seit 1962 die Wahl in Nordrhein-Westfalen für die CDU.

Noch am Wahlabend teilte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit, dass er die Vertrauensfrage stellen und Neuwahlen auf Bundesebene herbeiführen werde. Schröder sah seinen Regierungsanspruch und seine sogenannte Agenda 2010 in Frage gestellt. Ein knappes halbes Jahr später war Angela Merkel Bundeskanzlerin. Rüttgers, ihr Wegbereiter in Düsseldorf, bezeichnete die CDU damals als »die Arbeiterpartei«. In der Wirtschaftskrise ab 2007/2008 geißelte er außerdem den »Turbokapitalismus«. Eine Rhetorik, die zwar wenig mit Rüttgers neoliberaler schwarz-gelber Koalition in Nordrhein-Westfalen zu tun hatte, mit der man aber Wähler:innen zu erreichen hoffte. Auch zwei heute immer noch aktive Politiker:innen waren damals schon dabei: Armin Laschet, der damals Familien- und Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen wurde, und Serap Güler, die ihre politische Karriere 2007 als Mitarbeiterin Laschets Büro begann.

Die CDU als »Arbeiterpartei« und ein Minister, der für Integration und nicht für Abschiebungen stehen wollte – die Christdemokraten betrieben damals zumindest im bevölkerungsreichsten Bundesland unter anderen Vorzeichen Politik als heutzutage.

Der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Dennis Radtke, nannte es »befremdlich und falsch«, dass kein Ver­treter der »christlich-sozialen Wurzel« im Kabinett sei.

Güler, die in Nordrhein-Westfalen unter Laschet weiter Karriere machte und seit 2021 dem Bundestag angehört, ist als Staatsministerin im Außenministerium das einzige Mitglied der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) in den niederen Rängen der Bundesregierung. Einen Minister aus dem Arbeiterflügel der CDU gibt es nicht. Das hat Dennis Radtke, der Vorsitzende der CDA, schon kurz nach der Bekanntgabe der CDU/CSU-Kabinettsmitglieder scharf kritisiert. Der Süddeutschen Zeitung sagte er: »Eine Bundesregierung ohne Beteiligung der CDA kannte ich bisher nur aus Zeiten, in denen die CDU in der Opposition war.« Er finde es »befremdlich und falsch«, dass kein Vertreter der »christlich-sozialen Wurzel unserer Partei« im Kabinett sei. Das habe es »von Adenauer bis Merkel nie gegeben«.

Radtke sitzt seit 2017 für die CDU im Europaparlament, davor war er Gewerkschaftssekretär bei der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Hört man ihm in Interviews zu, dann klingt er fast wie ein Linksparteiler, der darauf verzichtet, Worte wie »Klassenkampf« in den Mund zu nehmen. Die Bevölkerung in Deutschland habe drei große Probleme, die die Bundesregierung angehen müsse, sagte er kürzlich im Podcast von Anne Will: die gestiegenen Energiekosten, die Lebensmittelpreise und die hohen Mieten. Außerdem müsse der Staat dafür sorgen, dass die Infrastruktur funktioniere. Migration sei nicht das Problem der meisten Menschen im Land, ist sich Radtke sicher. Die Fokussierung auf das Thema findet er deshalb falsch.

In Sachen AfD-Verbot nehmen Radtke und die CDA eine Minderheitenposition innerhalb der CDU ein. Nachdem der Verfassungsschutz die AfD als »gesichert rechtsextrem« eingestuft hatte, forderte die CDA prompt die Einleitung eines Verbotsverfahrens. »Mit besserer Politik wird es extrem schwer, dagegenzuhalten. Unsere konsensorientierte Demokratie hat diesen Spaltpilzen im Zeitalter von digitaler Desinformation nur wenig entgegenzusetzen. Ein Verbot ist daher der richtige Weg. Das wird ein großer gesellschaftlicher Kraftakt, den wir jetzt wagen sollten, um Schlimmeres zu verhindern«, heißt es in der Erklärung des Arbeitnehmerflügels. An entscheidender Stelle in CDU und Kanzleramt sieht man das anders und glaubt, die AfD »inhaltlich stellen« zu können. Friedrich Merz »riecht« ein AfD-Verbotsverfahren zu sehr nach »politischer Konkurrentenbeseitigung«.

Dieses Motiv dürfte jedoch für Merz selbst bei allerlei Personalfragen eine Rolle gespielt haben. So ist davon auszugehen, dass Jens Spahn vor allem deshalb Unionsfraktionsvorsitzender im Bundestag geworden ist, weil ihn diese Rolle zur Disziplin bei der Unterstützung des Kanzlers zwingt. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister ist dafür bekannt, dass er vor allem an sich selbst denkt. Er gilt als ein möglicher Wegbereiter einer Öffnung zur AfD, unterstützt von Personen wie dem Geschichtsprofessor Andreas Rödder (CDU), dem Leiter der »Denkfabrik Republik 21«.

Merz hat im Wahlkampf eine »Migrationswende« im Sinne der Parteirechten versprochen: mehr Abschiebungen und mehr Zurückweisungen an der deutschen Grenze. Spahn frohlockte bereits, mit dem neuen Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) habe Deutschland jetzt einen »schwarzen Sheriff«, der dieses Versprechen auch erfüllen werde. Tatsächlich hat Dobrindt die Bundespolizei angewiesen, Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen. Doch das verstößt gegen EU-Recht und sorgt für Konflikte mit den Nachbarstaaten. Gleichzeitig findet der Versuch der Regierung, de facto AfD-Forderungen durchzusetzen, auch innerhalb der Union Kritiker.

Auch andere Konkurrenten hält Merz fern vom Kabinettstisch. Es heißt, dass die beiden nordrhein-westfälischen Landesminister Karl-Josef Laumann und Ina Scharrenbach im Bundeskabinett keinen Platz bekommen haben, weil Merz fürchtet, dadurch Hendrik Wüst, den Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, am Kabinettstisch sitzen zu haben. Wüst gilt, trotz einer Vergangenheit am rechten Rand der Union, neben dem Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins, Daniel Günther, als einer der letzten mächtigen »Merkelianer«. Rückt die Union unter Merz zu weit nach rechts und verliert Wählerstimmen, dann wäre Wüst – auch als Vorsitzender des größten Landesverbands – einer der aussichtsreichsten Kandidaten, um die Partei zu übernehmen. Aus entsprechenden Ambitionen macht er kein Geheimnis.

Auch wenn Merz von Politikern wie Spahn oder Wüst Konkurrenz droht und er immer mit eigensinnigen Interventionen des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Markus Söder rechnen muss, werden die genannten immerhin Merz’ Außenpolitik kaum stören. In den ostdeutschen Landesverbänden sieht das anders aus. Jüngst sehnte sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in einem Interview mit der Zeit nach der verlorenen deutsch-russischen Freundschaft: »Wir müssten uns fragen, unter welchen Bedingungen Russland überhaupt mit uns reden wollte. Was könnte Wladimir Putin von uns wollen? Was in einem Dia­log mit Deutschland und Europa wäre für ihn interessant?« Den gesuchten »Hebel« für Gespräche sieht er in der Energiepolitik und zeigte sich offen dafür, die Nord-Stream-Pipelines zukünftig wieder in Betrieb zu nehmen. Äußerungen, die so gar nicht zu Merz passen, der für eine anhaltende EU-Unterstützung der Ukraine sorgen will. Aber Kretschmer führt eine Minderheitsregierung und ist deshalb im Zweifel vom BSW abhängig, die AfD ist in Sachsen in Umfragen die stärkste Partei. In Thüringen koalieren die Christdemokraten sogar mit Wagenknechts Putin-Freunden – das engt ein. Im kommenden Jahr will die CDU die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gewinnen. Mit dem außenpolitisch klar westorientierten Merz als Kanzler dürfte das schwierig werden.

Bisher hatte Merz Glück. Die Partei hat sich für den Bundestagswahlkampf weitgehend hinter ihm versammelt. Aber die verschiedenen innerparteilichen Strömungen stellen widersprüchliche Anforderungen an den Kanzler. Wo die einen mehr Sozialpolitik fordern, fordern die anderen Ausgabeneinsparungen. Nach den Koalitionsverhandlungen kam Kritik vor allem vom Wirtschaftsflügel und der Parteirechten, aus deren Sicht Merz der SPD zu viele Zugeständnisse gemacht hat. Deutschland als Führungsmacht einer gegen Putin geeinten EU, wie Merz es sich wünscht, steht gegen den Wunsch nach einer putinfreundlichen Politik vor allem in Ostdeutschland.

Um solche Positionen miteinander in Einklang zu bringen, ist ein gewisses Kommunikationsgeschick und Pro­blembewusstsein nötig. Zwei Eigenschaften, mit denen Merz in der Vergangenheit nicht unbedingt auffiel. Er muss einbinden und Kompromisse finden. Keine einfache Aufgabe für den aufbrausenden Sauerländer, zumal die AfD in Umfragen bei knapp 25 Prozent liegt, nahezu gleichauf mit der Union.