600 Tage in der Hölle
Es war ein düsteres Eingedenken: Am 28. Mai waren 600 Tage vergangen seit dem Tag, an dem am 7. Oktober 2023 Tausende von Kämpfern der Hamas und anderer Gruppen aus dem Gaza-Streifen 251 Menschen aus Israel entführten. 58 Geiseln sind nach 600 Tagen immer noch in Gefangenschaft. Darüber, wie viele von ihnen noch leben, gibt es keine gesicherten Angaben. Man geht von etwa 20 aus.
Das Datum markiert für viele Familien und für Israel eine tiefe Wunde, deren Heilung noch immer in weiter Ferne liegt. Kurz vor diesem 600. Tag gab es eine Pressekonferenz über Zoom mit ehemaligen Geiseln und deren Familien. Vor etwa 30 Journalist:innen haben sie ihre Erfahrungen, Ängste und ihre unerschütterliche Hoffnung zum Ausdruck gebracht.
Man geht von etwa 20 noch lebenden Geiseln aus.
Ayelet Samerano schildert den Schmerz einer Mutter, die seit über 600 Tagen in nicht endender Ungewissheit lebt. Ihr Sohn Yonatan Samerano wurde nach Geheimdienstangaben beim Supernova-Festival am 7. Oktober getötet, sein Körper wurde nach Gaza entführt. Doch Samerano will die Hoffnung nicht aufgeben: »Wir wissen nicht, ob er lebt oder nicht.« Sie erzählt, wie sie fieberhaft für ihrem Sohn kämpfe, immer wieder neue Hinweise suche. Yonatan beschreibt sie als lebensfrohen Jungen, seine einzige »Waffe« sei sein Lächeln gewesen.
»600 Tage sind unvorstellbar«, sagt sie. »Ich kann kaum noch schlafen, kann kaum noch essen. Unser Wunsch ist es, endlich wieder mit unserem Kind vereint zu sein.« Sie appelliert an die internationale Gemeinschaft, alles Notwendige zu tun, um die Geiseln freizubekommen und das Leid ihrer Familie zu beenden.
Von einem UNRWA-Mitarbeiter entführt
Sie berichtet weiter, dass ein UNRWA-Mitarbeiter ihren Sohn vom Nova-Festival entführt habe. »Wir haben am 7. Oktober 2023 Yonatans Handy lokalisieren können und hatten eine genaue Adresse in Nuseirat, Gaza.« Als wenig später die Washington Post die Namen und Adressen der UNRWA-Mitarbeiter veröffentlichte, die am 7. Oktober beteiligt waren, fanden sie dieselbe Adresse in Nuseirat. Auf meine Frage an Ayelet, wie die UN reagiert haben, nachdem sie damit konfrontiert wurden, antwortet sie mir: »Gar nicht. Sie taten so, als hätten sie damit nichts zu tun.«
Keith Siegel, der 484 Tage als Geisel in Gaza verbrachte, schildert die brutalen Erfahrungen während seiner Gefangenschaft. Er spricht von Misshandlungen, sexuellen Übergriffen, psychischem Druck und den unvorstellbaren Bedingungen in den Tunneln und Häusern in Gaza. »Ich wurde 33 Mal verlegt, musste die schlimmsten Dinge ertragen«, berichtet er. Seit seiner Rückkehr, die im Februar 2025 erfolgte, falle es ihm schwer, sich zu konzentrieren oder ein normales Leben zu führen. Sein größter Schmerz sei, zu wissen, dass noch immer 58 Geiseln in der Gewalt der Hamas sind.
»Für uns Familien ist jeder Tag unendlich lang und voller Angst, Trauer und Sehnsucht.« Dalia Cusnir, Schwägerin eines entführten Brüderpaars
»Was mich am meisten zerbricht«, sagt er, »ist zu wissen, dass vier Geiseln, mit denen ich in Gefangenschaft war, noch dort sind. Ich frage mich ständig: Warum bin ich frei und sie nicht?« Seine klare Forderung lautet: »Bringen Sie alle 58 Geiseln zurück. Es ist höchste Zeit, verantwortungsvoll zu handeln.«
Dalia Cusnir, Schwägerin eines entführten Brüderpaars, spricht emotional über die dauerhafte Belastung für die Familien. Ihr Schwager Iair wurde im Februar 2025 befreit, doch Eitan bleibt weiterhin in Gaza gefangen. »600 Tage ist nur eine Zahl«, sagt sie. »Für uns Familien ist jeder Tag unendlich lang und voller Angst, Trauer und Sehnsucht.« Sie verweist auf das Gefühl des Verrats: Die Familien sind überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft, inklusive Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz, bisher zu wenig unternommen hat, um die Geiseln zu retten. »Wir brauchen mehr Druck. Mehr Druck auf die Verantwortlichen. Jeder Tag, der vergeht, ist ein Tag, an dem unsere Lieben leiden.«
Versagen auf internationaler Ebene
Alle Familien eint die klare Botschaft: Das Versagen liegt auf internationaler Ebene. Sie kritisieren, dass bisher zu wenig passiert sei – sowohl von Seiten europäischer Staaten und der USA als auch der Vereinten Nationen. Ayelet Samerano fordert: »Wir brauchen konkrete Maßnahmen. Ich appelliere an die US-Regierung und die israelische Führung, gemeinsam alles zu tun, um unsere Kinder in Sicherheit zu bringen.« Sie betont, dass es nicht nur um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gehe, sondern um einen Terrorangriff: »Jeder Mensch muss vor Terror geschützt werden. Diese Geiseln sind ein Symbol für das Scheitern der internationalen Strukturen.«
Trotz all der Befürchtungen zeigen die Angehörigen auch Hoffnung. Keith Siegel bekräftigt: »Wir glauben an Frieden. Aber Frieden bedeutet auch, unsere Geiseln zurückzubringen. Das ist unser höchstes Ziel.« Die Familien setzen ihre Hoffnungen in eine Lösung, die auf Verhandlung, Diplomatie und internationalem Druck basiert. Sie glauben fest daran, dass Frieden möglich ist, wenn die Weltgemeinschaft sich vereint und entschlossen handelt. Trotz der tiefen Trauer lassen sie keinen Zweifel daran, dass sie an eine bessere Zukunft glauben. Und doch spürt man eine große Enttäuschung. Dalia Cusnir sagt: »Es herrscht Doppelmoral – wenn die Menschen in Gaza nicht genug zu essen haben, sind alle entsetzt, aber wenn die Geiseln nicht genug zu essen haben, kümmert das niemanden.«
Jenny Havemann ist Unternehmerin und Bloggerin und lebt in Ra’anana, etwas nördlich von Tel Aviv.