Kampf den Oligarchen
Der Populismus, entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts im ländlichen Mittleren Westen, ist der ureigenste Beitrag der USA zum bürgerlichen Ideologieangebot. Die Gründerväter um Thomas Jefferson hatten sich ihre Republik als eine von freien und gleichen Bauern vorgestellt; in den von Mark Twain spöttisch als »gilded age« (vergoldetes Zeitalter) bezeichneten Boom-Jahren nach dem Bürgerkrieg traten deren Repräsentanten, ausstaffiert mit stattlichen Bärten und dem Furor der Rechtschaffenheit, an, ihre Rechte einzuklagen. 1892 gründete sich die People’s Party, meist bekannt als Populist Party, aus einer Koalition von Bauern und handwerklich geprägten Arbeiterorganisationen.
Der Protest gegen die durch Großgrundbesitzer, Eisenbahnmagnaten und Finanzspekulanten beförderte Verarmung war freilich von Anfang an zweideutig. Aus dem Populismus sprach alles, was zum Ressentiment gegen die sogenannten Eliten nun einmal dazugehört: Antiintellektualismus, Verschwörungstheorie, Verklärung von Armut und Borniertheit. Es gibt kein besseres Symbol dieser Doppeldeutigkeit als William Jennings Bryan, der nach dem Niedergang der Populist Party dreimal erfolglos als Präsidentschaftskandidat der Demokraten antrat.
Aus dem Populismus sprach alles, was zum Ressentiment gegen die sogenannten Eliten nun einmal dazugehört: Antiintellektualismus, Verschwörungstheorie, Verklärung von Armut und Borniertheit.
Bryans forderte vor allem eine Erhöhung der Geldmenge – die Ergänzung der Goldbindung des US-Dollars um eine Silberbindung –, um die Schuldenlast der Kleinbauern zu lindern. Seine »Cross of Gold«-Rede von 1896, in der er ausrief, die »Finanzmagnaten« dürften die arbeitenden Massen »nicht an ein Kreuz aus Gold schlagen«, ein Meisterstück politischer Rhetorik, machte ihn berühmt; heute aber erinnert man sich an Bryan vor allem wegen seiner Rolle als Chefankläger im sogenannten Scopes-Prozess von 1925, einem Gerichtsverfahren um die Verwendung der Evolutionslehre im staatlichen Biologieunterricht, welches ihn und seine erweckungschristlichen Miteiferer zum nationalen Gespött machte.
Den Populismus gibt es also sowohl in einer rechten wie einer linken Geschmacksrichtung, je nachdem, wie die Grenze zwischen oben und unten gezogen wird: sowohl als Verteidigung der »schweigenden Mehrheit« gegen kulturbolschewistische Zersetzer wie auch als Kampfansage der 99 an das eine Prozent. Beide Varianten feierten bei der Präsidentschaftswahl 2016 ihr großes Comeback.
Während aber Donald Trumps Rhetorik auf eine reiche konservative Tradition zurückblicken konnte, kam das starke Abschneiden von Bernie Sanders, seines Zeichens Senator für Vermont, bei den Vorwahlen der Demokraten nahezu wie aus dem Nichts. Was eigentlich nur als Gelegenheit gedacht war, die Wahlkampfbühne zu nutzen, um die Macht der Reichen anzuprangern und für eine nationale Gesundheitsversorgung zu werben, sorgte am Ende dafür, dass die Kür Hillary Clintons zur Kandidatin der Demokraten zeitweilig zur Zitterpartie geriet.
Ohne Sanders kein Jeremy Corbyn
Dieser Überraschungserfolg hatte Ausstrahlungskraft weit über die USA hinaus. Wenn selbst im Land des hire and fire ein »demokratischer Sozialist« – so Sanders’ Selbsteinstufung – auf einmal gefragt ist, dann muss linke Sozialpolitik wirklich mächtig im Kommen sein. Ohne Sanders, so steht zu vermuten, auch kein Jeremy Corbyn und vielleicht nicht einmal eine Partei La France insoumise (LFI, Das unbeugsame Frankreich) von Jean-Luc Mélenchon.
In den USA wiederum übernahmen nach Trumps Wahlerfolg auch Sanders’ innerparteiliche Gegner die Deutung seiner Anhänger: dass die Wahl 2016 ein Aufstand gegen den Neoliberalismus war und darum nur »Bernie« Trump hätte schlagen können. Die Demokraten rückten in der Folgezeit merklich nach links; im Vorwahlkampf 2020 übertrumpften sich fast alle ihrer Kandidaten mit progressiven Forderungen nach mehr Einwanderung, schärferen Waffengesetzen, Schutz von Minderheiten und staatlicher Umverteilungspolitik.
Es wirkte wie ein Auftakt, doch es war, wie sich rückblickend herausstellen sollte, bereits der Höhepunkt gewesen. 2020, in Sanders’ zweitem Anlauf, Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden, blieben seine Stimmenanteile deutlich hinter dem Ergebnis von 2016 zurück. Die Massen hatten eben doch nicht heimlich auf den Erlöser mit dem sozialdemokratischen Programm gewartet, sondern schlicht einen gebraucht, um ihre Abneigung gegen Clinton zu Protokoll zu geben – ganz egal, ob es dabei nun um ihr Eintreten für den Irak-Krieg ging oder darum, dass man Karrierefrauen nun einmal nicht ausstehen kann. Ohne Clinton auf dem Wahlzettel blieb für Sanders allein der harte Kern aus jugendlichen Aktivisten, enttäuschten Gewerkschaftern und prekären Intellektuellen übrig.
Bloß weil man Arbeiterklasse draufschreibt, ist halt noch lange nicht Arbeiterklasse drin.
Und so wie Sanders ging es vielen. 2018 zogen, mit Alexandria Ocasio-Cortez an der Spitze, die ersten sich als solche bezeichnenden demokratischen Sozialistinnen als Abgeordnete der Demokraten ins Repräsentantenhaus ein, als eine Art Opposition in der Opposition. Bei den folgenden Wahlen stellte sich allerdings heraus, dass deren Vertreter einzig und allein in Hochburgen der Demokraten Wahlen gewinnen können; inzwischen ist die Gruppe wieder auf ihre vier ursprünglichen Mitglieder zusammengeschrumpft.
Corbyn erlebte 2019 als Labour-Spitzenkandidat ein veritables Wahldebakel, und statt die »rote Mauer« im proletarischen Nordengland zurückzuerobern, lagen die einzigen Wahlkreise, die Labour unter seiner Führung dazugewinnen konnten, in Londons wohlhabendsten Bezirken, wo man vom »Brexit« die Nase voll hatte.
Bloß weil man Arbeiterklasse draufschreibt, ist halt noch lange nicht Arbeiterklasse drin. Überhaupt existiert ein merkwürdiges Missverhältnis zwischen Inhalt und Verpackung. Sanders’ Wahlkampforganisation, »Our Revolution«, propagiert nicht die Expropriation der Expropriateure, sondern einen Ausbau des fordistischen Wohlfahrtsstaates. Selbst wer dagegen wenig einzuwenden hat, wird konzedieren müssen, dass Revolutionäre früherer Generationen sich wohl nicht mit der Verstaatlichung der Krankenkassen beschieden hätten, auch wenn sich eine solche Forderung vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Sozialgeschichte revolutionär ausnimmt.
Habitueller Konservatismus
Dass zu mehr die Vorstellungskraft nicht reicht, ist wiederum kaum den Protagonisten allein anzulasten. Unter den gegebenen Verhältnissen führt, wer sich politisch an den zahllosen himmelschreienden Ungerechtigkeiten des gegenwärtigen Kapitalismus abmüht, fast automatisch Abwehrkämpfe: Gegen den immer weiter fortschreitenden Sozialkahlschlag beruft die Linke sich auf den Klassenkompromiss der Nachkriegsära, als die Gewerkschaften noch kampfstark waren und der Spitzensatz der Einkommenssteuer in den USA über 90 Prozent lag.
Sanders und seine Anhänger beklagen, die Demokraten hätten sich von »ihren Wurzeln« abgewandt, und beschwören als Gegenbild die Roosevelt’sche New-Deal-Politik – als hätte sich diese nicht wunderbar mit dem (im Übrigen dezidiert gewerkschaftsfeindlichen) Apartheid-Regime in den Südstaaten vertragen. Allem Veränderungswillen zum Trotz entsteht so ein habitueller Konservatismus, dessen Sehnsucht nach den fünfziger Jahren eine unbehagliche Nähe zur »Make America Great Again«-Nostalgie aufweist.
Sanders selbst – und das ist ihm anzurechnen – zieht die Konsequenz, die sich aufdrängt, nicht. Schon 2020 war der Wandel kaum zu übersehen. Der Kandidat, der vier Jahre zuvor identitätspolitische Avancen noch schroff zurückgewiesen hatte, warb nun mit outreach-Operationen gezielt um die Stimmen von Schwarzen und Latinos. Aus dem Volkstümler, der fast monoman auf die »Millionäre und Milliardäre« fixiert war, war so ein ganz normaler moderner Linksliberaler geworden.
In Abstimmungsfragen verlässlicher Demokrat
Das zeigt sich selbst bei der »Fighting Oligarchy«-Tour, mit der Sanders und Ocasio-Cortez derzeit Stimmung gegen die Regierung Trumps machen und in zahlreichen Städten Zehntausende Zuschauer anziehen. Die Korruption der Regierung Trump und die geplanten Kürzungen der Republikaner im Sozialbereich liefern Steilvorlagen für Sanders populistische Kritik an der Macht der Vermögenden; gleichzeitig warnt er davor, Trump wolle die Demokratie der USA in eine »autoritäre Gesellschaftsform« verwandeln, er befeuert den Enthusiasmus der demokratischen Wähler und der aktivistischen Parteibasis.
Heute ist Sanders im Grunde ein zwar kauziger, aber in Abstimmungsfragen verlässlicher Demokrat, wenn auch einer ohne Parteibuch. Und auch Ocasio-Cortez sieht ihre Zukunft ganz offenkundig in der Parteiführung, nicht in einem nebulösen dritten Weg.
Wie der aussehen würde, demonstrieren einige von Sanders’ früheren Weggefährten. Einstige Mitarbeiter und prominente Unterstützer, darunter die Journalisten David Sirota, Briahna Joy Gray, Glenn Greenwald oder Matt Taibbi, zogen aus den Niederlagen von 2016 und 2020 den Schluss, dass die proletarische Erhebung nicht mangels Masse, sondern an den Machenschaften der Demokratischen Partei gescheitert sei – und die Wahl Trumps darum deren gerechte Strafe darstellt.
Wenn man dieselben Feinde hat wie die Maga-Meute, warum dann nicht die Kräfte vereinen?
Deshalb suchten sie die Nähe zur so genannten dirtbag left (in etwa: »Drecksack-Linke«), einer Strömung um Podcasts wie »Chapo Trap House« und »Red Scare«, wo man kein ärgeres Übel kennt als wohlmeinende Vorstadtliberale, die shitlibs. Die dirtbag left betreibt eine Art postmodernen Proletkult: Die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse stellt man nicht mehr durch Opferbereitschaft und Malocherstolz zur Schau, sondern indem man zotige Witze reißt.
Von dort aus bis nach ganz rechts ist nur noch ein kleiner Schritt. Wenn man dieselben Feinde hat wie die Maga-Meute – Gleichstellungspolitik, »wokeness«, die professional-managerial class –, warum dann nicht die Kräfte vereinen? Greenwald tourt mit dem Verschwörungstheoretiker Alex Jones und preist die Republikaner als das kleinere Übel; Taibbi enthüllt im Auftrag von Elon Musk Moderationsentscheidungen der früheren Twitter-Führung als sinistre Zensurmaßnahmen gegen Konservative; der Podcast »Red Scare« betreibt, natürlich stets mit einem ironischen Augenzwinkern, Querfrontpolitik mit den Chefideologen der Neuen Rechten. So vereint sich der Populismus wieder.