»Wir wollen von links gegen Putins Propaganda vorgehen«
Sie gehören zum Kreis russischer Linker, die nach Kriegsbeginn nach Deutschland gekommen sind. Wie definieren Sie sich, seit sie hier leben?
Ich sehe mich als demokratischer Sozialist und Bezirkspolitiker.
Ihr Mandat als Bezirksabgeordneter in Sankt Petersburg können sie von hier aus nicht wahrnehmen …
Ich beteilige mich am Semstwo-Kongress, einem überregionalen Zusammenschluss unabhängiger Bezirksabgeordneter, der die lokale Selbstverwaltung in Russland stärken will. Die meisten seiner Mitglieder befinden sich nach wie vor in Russland. Mitte Mai wurde der Semstwo-Kongress in die Liste »ausländischer Agenten« aufgenommen. Vermutlich wird sich die Organisation in absehbarer Zeit auflösen.
Worin sehen Sie Ihre Aufgabe derzeit?
Die sehe ich hauptsächlich darin zu versuchen, Vorschläge für die linke Bewegung zu erarbeiten, wie sie lokale Selbstverwaltung ausgestalten kann. Es geht darum, ein politisches Programm zu entwickeln für den Zeitpunkt, an dem es gebraucht wird. In der Linken gibt es kompetente und ambitionierte Leute, die, wenn die Zeit reif ist, mit ihren Ideen und ihrer Erfahrung einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung grundlegender politischer Veränderungen in ganz Russland leisten könnten.
»Kämpft man gegen ein autoritäres Regime, rücken politische Differenzen in den Hintergrund, deshalb hat es für viele keine Relevanz, sich als Liberale oder Linke zu positionieren.«
Aber der Semstwo-Kongress ist kein linker Verband.
Nein, aber er ist ein wichtiges Instrument für die Zusammenarbeit politisch Engagierter in den Regionen. Eine Besonderheit des politischen Lebens in Russland besteht darin, dass über grundlegende Ansichten wenig gesprochen wurde, zumindest in den vergangenen zehn Jahren. Wenn man gegen ein autoritäres Regime kämpft, rücken politische Differenzen in den Hintergrund, deshalb hat es für viele keine Relevanz, sich als Liberale oder Linke zu positionieren.
Als Bezirksabgeordneter in Sankt Petersburg hatte ich es mit unterschiedlichen Leuten zu tun, mit unpolitischen, aber auch mit Rechten. Beispielsweise klappte es mit einem nationalistischen Abgeordneten, eine Fortbildung zum Thema Umgang mit Obdachlosen zu initiieren. Dem ging voraus, dass der Nationalist Obdachlose bei Frost aus dem Keller eines Wohnhauses auf die Straße setzen ließ und ich ihn dafür heftig kritisierte. Er hatte aber schlichtweg keine Ahnung, dass es in der Stadt eine Hilfsorganisation wie die Notschleschka (Nachtasyl) gibt. In Deutschland ist es wichtiger, sich von rechts klar abzugrenzen.
Existieren in Deutschland Gruppen russischsprachiger Linker, die darüber diskutieren, wie diese Abgrenzung aus ihrer Sicht auszusehen hat, und die aus der Emigration heraus ihre politischen Positionen erarbeiten?
Es gibt mehrere, beispielsweise das Bündnis postsowjetischer Linker aus Belarus, Russland und der Ukraine, das sich allerdings stark an der untergegangenen Sowjetunion orientiert. Oder das Projekt »Radikale Demokratie«, dem ich und eine Reihe vor allem linker Wissenschaftler angehören. In Arbeitsgruppen diskutieren wir über Grundsätze eines zukünftigen politischen Programms. Auch innerhalb der Linkspartei laufen Vorbereitungen zur Einrichtung einer russischen Gruppe.
Sie sind in Deutschland der Linkspartei beigetreten. Was versprechen Sie sich davon?
Wir haben es mit einem ernstzunehmenden weltweiten Verschiebung nach rechts zu tun. Selbst dem Namen nach linke Regierungen schwenken in vielen Ländern auf einen rechten Kurs um, insbesondere in Migrationsfragen. Die deutsche Sozialdemokratie ist da keine Ausnahme. Die Linkspartei bemüht sich zumindest, Antwort auf die politischen Krisen unserer Zeit aus einer linken Haltung heraus zu liefern.
»Die Linkspartei bemüht sich zumindest, Antwort auf die politischen Krisen unserer Zeit aus einer linken Haltung heraus zu liefern.«
Was heißt das genau?
Sie zeigt als Oppositionspartei Stärke. Ich habe nicht vor, hier bei Wahlen anzutreten. Mir ist es trotzdem wichtig, mich politisch einzubringen, auch weil ich Parteien und andere Institutionen nicht rechten Kräften überlassen will. Dabei schätze ich aktivistische politische Arbeit an der Basis, wo man nicht zu Kompromissen gezwungen wird.
Wenn von der russischen Opposition die Rede ist, sind in der Regel liberale Gruppierungen gemeint. Früher konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf den 2024 im Gefängnis gestorbenen Oppositionellen Aleksej Nawalnyj. Die russische Linke geht da völlig unter.
Sobald sich die Gelegenheit ergibt, in Russland wieder aktiv zu werden, wollen wir schnellstmöglich politisch in Erscheinung treten, egal ob als Partei oder Bewegung. Wir brauchen unsere Medien, ein landesweites Netzwerk von Aktivisten in Russland, Ressourcen und eine funktionierende Infrastruktur.
Selbst innerhalb der liberalen Opposition gibt es Kräfte, die Vorbereitungen auf einen politischen Wandel in Russland für sinnlos erachten und sich stattdessen allein auf die Unterstützung der Ukraine konzentrieren. Was halten Sie davon?
Es fällt mir schwer, so eine Einstellung zu teilen. Selbst wenn die russische Opposition ihre gesamten Mittel für die Unterstützung der Ukraine mobilisiert, würden sie nur einen Bruchteil der finanziellen Aufwendungen der USA oder Europas ausmachen. Einzelnen mag man helfen können, strategisch gesehen verpufft diese Hilfe. Auch von Ukrainern habe ich gehört, dass sie es als wichtiger erachten, wenn wir uns um unser eigenes Land kümmern. Es gibt auch russische Linke, die der Ukraine bei der Verteidigung beistehen, aber wenn es um die Erarbeitung einer Strategie geht, erscheint es mir als russischem Linken einleuchtender, mich mit Russland zu befassen.
»Es gibt auch russische Linke, die der Ukraine bei der Verteidigung beistehen, aber wenn es um die Erarbeitung einer Strategie geht, erscheint es mir als russischem Linken einleuchtender, mich mit Russland zu befassen.«
Gibt es eine Zusammenarbeit mit Liberalen im Exil?
Ich halte den Kontakt zu Nawalnyjs Umfeld sowie zu anderen liberalen Organisationen und suche nach Bündnispartnern. In Nawalnyjs Organisation FBK finden sich Leute, die sich als Sozialisten bezeichnen. Sie arbeiten dort nur deshalb, weil sie diese NGO für die Struktur mit dem größten revolutionären Potential halten. Dabei war Nawalnyj alles andere als ein Linker, selbst wenn er sich in den vergangenen Jahren in diese Richtung bewegt hat.
Die FBK lehnt im Übrigen Verhandlungen mit dem russischen Establishment ab, jedenfalls stellt sie das so dar. Und im Unterschied zu anderen liberalen oppositionellen Gruppierungen stellt die FBK die Privatisierungen der neunziger Jahre in Frage. Gleichzeitig ist es für Linke wichtig, Distanz zu bewahren, denn das Reformprogramm des FBK wird auf eine ultraliberale Wirtschaftsordnung und erneute Privatisierungen zielen.
Wieso sind Sie sich da so sicher?
Ich war neulich bei einem von Julija Nawalnaja organisierten Forum. Dort habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie und ihre Vertrauten versuchen herauszufinden, wie sich Nawalnyj weiterentwickelt hätte. Er wollte immer ein Politiker der Mehrheit sein, und bei seinen Reisen durch die Regionen wurde ihm klar, dass ihm das nur gelingt, wenn er aus der liberalen Blase ausbricht. Bei der FBK hat man durchaus erkannt, dass es nicht ohne soziale Absicherung geht, doch bei ökonomischen Fragen hört die Leitung auf ultraliberale Wirtschaftsexperten. In der russischen Linken fehlt es leider an Kompetenz in Sachen Ökonomie. Ich hätte jedenfalls kein Problem damit, wenn die reichsten russischen Geschäftsleute enteignet würden.
Aber welche Relevanz haben derlei Planspiele überhaupt? Selbst wenn der Krieg in absehbarer Zeit enden sollte, ist es doch unwahrscheinlich, dass es Spielraum für politische Veränderungen gibt.
In Russland besteht die Gefahr eines rechten Revanchismus, ausgehend von Kräften, die nach Schuldigen dafür suchen werden, dass die Ukraine 2022 nicht binnen drei Tagen eingenommen werden konnte. Es ist wichtig, nach Russland zurückzukehren und ein linkes Programm zu artikulieren.
»In Russland haben wir Wahlkampf unter ziemlich einschränkenden Bedingungen betrieben und daraus gelernt. Wahlplakate führen nicht zum Erfolg, nur das direkte Gespräch an der Wohnungstür.«
Über aus Russland gesteuerte Desinformationskampagnen wird in Deutschland regelmäßig debattiert, auch in Bezug auf Wahlbeeinflussung. Ist das ein Thema bei russischen Linken?
Zweifellos versucht Putin, mit Mitteln der soft power, mit Hilfe der AfD oder auch über das Bündnis Sahra Wagenknecht Einfluss zu nehmen. Aber es ist ein zweischneidiges Schwert. Durch NGOs gab es Versuche, der russischen Bevölkerung die liberale Demokratie nahezubringen, und Einflussnahme funktioniert eben auch in die andere Richtung. Als Antikriegslinke schwebt uns durchaus vor, gegen Putins Propaganda vorzugehen, aber uns fehlen die Ressourcen. Außer Gesprächen mit einzelnen Parteien gab es bislang wenig konkrete Schritte.
Es gibt aber bereits Initiativen?
In Essen finden im September Kommunalwahlen statt und ich versuche, mich da einzubringen. Es könnte aber besser laufen. Es wird immer noch über das Programm diskutiert, drei Monate vor der Wahl ist es dafür aber zu spät. Wähler haben andere Bedürfnisse als Programmdebatten, sie suchen den direkten Kontakt zu ihren Kandidatinnen und erwarten konkrete Maßnahmen. Die deutsche Politik ist stark auf ihre Parteiprogrammatik fixiert, es wird lange über die richtige Formulierung debattiert. Aber wenn die praktische Aufgabe bevorsteht, Mandate für die Linkspartei in Essen zu holen, wäre es besser, sich darauf zu konzentrieren.
Russische Bezirkspolitiker könnten ihre Expertise einbringen?
Klar, in Russland haben wir schließlich Wahlkampf unter ziemlich einschränkenden Bedingungen betrieben und daraus gelernt. Wahlplakate führen nicht zum Erfolg, nur das direkte Gespräch an der Wohnungstür. Wie sollen wir gegen russische Desinformation vorgehen, außer indem wir uns aktiv an politischen Prozessen beteiligen? Mit reiner Didaktik, wie sie die Bundeszentrale für politische Bildung betreibt, kommt man jedenfalls nicht weit.
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Witalij Bowar ist Historiker und wurde 2019 zum Bezirksabgeordneten in Sankt Petersburg gewählt. Im Herbst 2022 sah er sich gezwungen, Russland zu verlassen. Über ein humanitäres Visum konnte er sich in Deutschland niederlassen und lebt mittlerweile in Potsdam. Im Juni 2023, noch vor Ablauf seiner Amtszeit, wurde ihm das Mandat entzogen, im selben Monat stufte ihn die russische Justiz als »ausländischen Agenten« ein.