Debatte über das Lebensende
Es war als eines der »großen Gesetze« der Legislaturperiode der Jahre 2022 bis 2027 angekündigt worden, die loi sur la fin de vie, das Gesetz über das Ende des Lebens; es soll eine existentielle menschliche Frage regeln, weswegen in die Ausarbeitung auch fundamentale, mitunter gegensätzliche philosophische Überzeugungen und Prinzipien einfließen.
In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch voriger Woche hat die französische Nationalversammlung den Gesetzentwurf, der eine Fortentwicklung der 2005 beschlossenen loi relative aux droits des malades et à la fin de vie darstellen soll, in erster Lesung angenommen – zehn Jahre nachdem die parlamentarischen Beratungen zum Thema begonnen hatten. Es geht um Bioethik, um Palliativmedizin, den Zugang zu Behandlung im Endstadium, aber auch um Sterbehilfe für unheilbare Kranke oder Schmerzpatienten. Insbesondere diese sorgte für Kontroversen: Die einen befürchteten Missbrauch, sogar die Ermöglichung von sogenannter Euthanasie, die anderen plädierten für ein möglichst schmerzfreies Lebensende.
In Belgien beging im Mai 2022 eine 23jährige, die Augenzeugin eines jihadistischen Attentats war, Suizid mit Hilfe eines ihr dafür verschriebenen Medikaments.
Im übernächsten Jahr soll das Gesetz, über das ab kommenden Herbst das parlamentarische Oberhaus, der Senat, beraten soll, nach weiteren Lesungen in beiden Kammern unter Dach und Fach sein. So viel Zeit wollen sich alle im Parlament vertretenen Parteien lassen, die bei den anstehenden Abstimmung jeglichen Fraktionszwang aufgehoben hatten. Denn zu sehr greifen intime menschliche Erfahrungen, individuelles Verlangen, persönliche Dramen oder familiäre Erinnerungen hier ineinander, als dass sich das Thema für schlichte politische Lagerkämpfe eignen würde.
Ideologisch eindeutig erscheinende Antworten gab es zum Thema, wie das Lebensende geregelt sein soll, bislang vor allem in einem Teil des rechten Lagers, insbesondere dort, wo eine mehr oder minder eindeutige religiöse Bindung besteht. Wichtigster Grund dafür ist, dass jedenfalls die dominierenden Auslegungen der christlichen wie auch der islamischen und der jüdischen Religion den Freitod grundsätzlich ablehnen: Das menschliche Leben habe Gott gegeben, deswegen könne auch nur er darüber entscheiden, wann er es wieder zurücknehme.
Ähnliche Überlegungen führen etwa auch zur überwiegend christlich motivierten Abtreibungsgegnerschaft – da bei ihren Anhängern das menschliche Leben nicht mit der Geburt beginnt, sondern mit dem Zusammentreffen von Spermium und Eizelle –, aber auch zum Beispiel zur Ablehnung von Tätowierungen bei strenggläubigen Muslimen: Sie bestehen darauf, dass auch der menschliche Körper nur eine Leihgabe Gottes sei, die nicht verändert werden dürfe.
Fundamentalistische Ansichten
Solch fundamentalistische Ansichten versucht vor allem der dem rechten Rand der Konservativen angehörende, seit September vorigen Jahres amtierende Innenminister Bruno Retailleau aufzugreifen. Der ursprünglich vom nationalkonservativen Mouvement de la France um Philippe de Villiers kommende Minister ist seit dem 18. Mai Vorsitzender der stärksten konservativen Partei, Les Républicains (LR). Das Amt errang er in einer parteiinternen Urwahl, in der er dem Lyoner Regionalpräsidenten Laurent Wauquiez gegenübergestanden hatte.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen kündigte Retailleau eine scharfe grundsätzliche Opposition gegen das – wie er es nannte – »Sterbehilfegesetz« an. Acht Tage vor der parteiinternen Wahl hatte er bei einer Debatte behauptet, werde es verabschiedet, dann werde es »leichter, sich töten als sich behandeln zu lassen«. Das dürfte allerdings kaum in der Absicht der das Gesetz unterstützenden Abgeordneten und Ärztinnen liegen.
Ähnlich wie Retailleau ticken auch relevante Teile des rechtsextremen Rassemblement national (RN), in dessen Nationalversammlungsfraktion die gegen Schwangerschaftsabbrüche ebenso wie gegen Sterbehilfe opponierende sogenannte Lebensschützerströmung zwischen einem Viertel und der Hälfte der Abgeordneten ausmacht – diese wirft Abtreibung, Sterbehilfe, »Euthanasie«, aber auch Homosexualität in einen Topf und fabuliert von einer gegen familiäre Fortpflanzung gerichteten »Kultur des Todes«. Zu dieser Strömung zählt etwa die profilierte Abgeordnete Laure Valette. Doch ein Dutzend RN-Abgeordnete unterstützten auch den Regierungsentwurf, der unter gewissen Umständen eine Sterbehilfe für unheilbar Kranke ermöglichen soll.
Druck auf Alte, Kranke, vermeintlich Lebensunfähige
Aber auch auf linker und liberaler Seite wurden und werden Fragen und Zweifel laut. Das Grundproblem lautet: Hat man einmal das religiöse Dogma verworfen, wonach man niemals an Gottes Stelle über das Lebensende verfügen dürfe – also notfalls auch elendes Siechtum von Sterbenskranken verlängern müsse –, zieht aber keine anderen Grenzen, öffnet man anderen Formen von Schrecken Tür und Tor. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sich damals progressiv wähnende Kreise auch zu Rassenbiologie im Namen der Wissenschaftlichkeit, zu Eugenik und zu Vorstellungen medizinisch zu begründender oder zu verwerfender Lebensberechtigung hinreißen lassen. Die Befreiung von den Dogmen der Religion kann, muss jedoch nicht zu humanistischen Weltbildern führen.
Würde man Sterbehilfe sehr weitgehend liberalisieren – wie dies insbesondere in den Niederlanden und Kanada der Fall ist –, wer könnte dann garantieren, dass nicht die familiäre oder soziale Umgebung Druck auf Alte, Kranke, vermeintlich Lebensunfähige ausübt? Auf dass diese die vom Gesetz doch eigens gewährte Chance nutzen mögen, ihrem Leiden endlich qua aktiver Sterbehilfe ein Ende zu setzen (und anderen nicht mehr zur Last zu fallen)? Wovon hat der freie Wille frei zu sein – auch vom Einfluss der Umgebung, der Angehörigen oder der Debatte über soziale Kosten von Menschen, die nur als Last wahrgenommen werden? Und wann ist er das wirklich?
In Belgien, wo ebenfalls aktive Sterbehilfe erlaubt ist, beging im Mai 2022 eine 23jährige Suizid mit Hilfe eines ihr dafür verschriebenen Medikaments. Shanti De Corte hatte als Augenzeugin eines jihadistischen Attentats vom Frühjahr 2016 am Flughafen von Brüssel, bei dem sie selbst körperlich nicht verletzt worden war, »psychisches Leiden« geltend gemacht, schwere Traumatisierungen, verursacht von dem Terroranschlag. Dieses belgische Beispiel, das aufzeigte, wie weit man gehen kann – auch ohne Druck von Dritten zum Suizid –, reizte in Frankreich jedenfalls in der damals tagenden, per Losverfahren zusammengesetzten »Bürgerkommission«, die kurz vor der parlamentarischen Debatte zum Thema diskutierte, niemand zur Nachahmung.
Garantierter Zugang zu Palliativmedizin
Linke, Liberale und einige der Bürgerlichen wollten dennoch Möglichkeiten zum ärztlich begleiteten Freitod offenlassen. Eine wichtige Rolle in den Debatten spielte die zum linken Flügel der Grünen zählende, als Feministin bekannte Abgeordnete Sandrine Rousseau. Sie schilderte, wie ihre Mutter nach einer zehn Jahre dauernden Krebserkrankung damals mit illegal beschafften Mitteln Suizid beging – auch weil bei Palliativbehandlung die Ernährung und Wasserversorgung der Mutter eingestellt worden war, so dass man sie, nach Meinung von Rousseau, im Grunde schlicht verdursten und verhungern ließ.
Doch einigten sich die Befürworter auf relativ eng gezogene Bedingungen für aktive Sterbehilfe: Die Patienten und Patientinnen müssen einen freien Willen erkenntlich ausdrücken, sich im Endstadium einer Erkrankung ohne Heilungschancen befinden und an Schmerzen leiden. Ärztliches Eingreifen muss transparent stattfinden und im Nachhinein nachvollzogen werden können, um es im Falle von Missbrauch strafrechtlich sanktionieren zu können. Ferner muss ein garantierter Zugang zu Palliativmedizin bestehen, die – ohne Heilung bringen zu können – Schmerzen und Leiden im letzten Krankheitsstadium lindert, ohne aktiv lebensbeendend zu wirken.
Die Nationalversammlung verabschiedete statt eines Gesetztes letztlich zwei: eines zur Palliativmedizin, das sie einstimmig annahm; ein zweites zur Ermöglichung der konditionierten Sterbehilfe erhielt 305 Ja- und 199 Gegenstimmen bei 57 Enthaltungen. Die Debatte ist keineswegs zu Ende. Die anderthalb Jahre bis zum Ende der Legislaturperiode sollen dazu dienen, die Bedingungen noch detaillierter auszuformulieren.
Hilfe bei Suizidgedanken:
Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222
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Telefonberatung für Kinder und Jugendliche: 116 111
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