Mit Mark Aurel zum Bugatti
Der Mensch ist Teil eines göttlichen Ganzen, er soll seine Affekte beherrschen, ein tugendhaftes Leben führen und sich nur auf das konzentrieren, was in seiner Kontrolle liegt. Es sind grundlegende Prinzipien des Stoizismus, die ausgehend von dem griechischen Philosophen Zenon von Kition in der hellenistischen Ära erdacht und später von römischen Denkern wie dem Philosophen, Dramatiker und Politiker Seneca weiterentwickelt wurden; auch der Kaiser Mark Aurel war Stoiker und verfasste eines der bekanntesten Werke dieser philosophischen Denkschule. Durch Influencer erfährt sie im Internet neuerdings eine groteske Wiederbelebung – als ein Verschnitt aus Misogynie, Fitness-Kultur und destruktiver Männlichkeit, der den Stoizismus bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Maßgeblich daran beteiligt ist der US-amerikanisch-britische Unternehmer und ehemaliger Kickboxer Andrew Tate, der junge Männer im Internet mit seinen Botschaften beeindruckt. Er ist einer der prominentesten Namen der Manosphere, einer dezentralen Online-Bewegung, die Foren, Youtube, Messaging-Dienste und auch die Popkultur heimsucht. Es geht um Männlichkeit und wie man sie möglichst aggressiv auslebt. In diesem Umfeld stößt man schnell auf den Handel mit Kryptowährungen und andere dubiose Geschäfte. Es wird stets das winner’s mindset ausgerufen, das um jeden Preis Gewinnen und Vorankommen will.
Die Rückbesinnung auf die Stoa kann als Flucht in längst vergangene Zeiten verstanden werden, als die Gesellschaft vermeintlich besser war. Männer sollen sich wieder auf sich selbst konzentrieren und souverän sein.
Die Vorstellungswelt dahinter ist bestenfalls libertär, schlimmstenfalls rechtsextrem zu nennen. Sie ist sowohl anschlussfähig für die Alt-Right und die Incel-Bewegung als auch für religiösen Extremismus. Längst ist Tate ein Fall für die Justizbehörden nicht nur der USA. Jüngst hat die Staatsanwaltschaft in Großbritannien gegen ihn und seinen Bruder Tristan Tate Anklage erhoben. In insgesamt 21 Fällen werden den Brüdern Vergewaltigung, Menschenhandel, Körperverletzung und Förderung der Prostitution vorgeworfen.
Wie passt der Stoizismus dazu? Im Grunde gar nicht. Doch die Philosophie der Stoa wird geplündert und zurechtgebogen, bis sie sich in Andrew Tates Weltbild fügt. So behauptete er im Dezember 2019 in einer Ausgabe der rechtspopulistischen Fernsehsendung »The David Knight Show«, dass »es die Kernkompetenz von Männlichkeit ist, seine Emotionen zu kontrollieren«. Frauen hingegen könnten das nicht. Und sie wollten auch nichts von Männern, die offen ihre Gefühle zeigten. »Die Schwachen versuchen, uns Männer weiter zu schwächen«, sagt Tate. Dies aber lasse er nicht zu.
Durch emotionale Resilienz sei er zu seinem Bugatti, der Jacht und dem Privatjet gekommen, erklärte Tate im September 2022 im Gespräch auf dem rechtslibertären Podcast »Valuetainment«. »Wenn du stoisch bist, ist alles Schlechte, das dir passiert, unbegrenzte Energie. Trennungen, Depressionen, Wut, Trauer und all diese negativen Emotionen, von denen man dir sagt, dass du darunter zusammenbrechen sollst«, fabuliert er. Joe Rogan, Trump-Freund, Trans-Feind und weltweit erfolgreichster Podcaster, behauptet sogar, Schriften Mark Aurels zu kennen. Dabei hat er lediglich als Hörbuch in der Sauna gehört. Immerhin.
Ziel: glücklich sein
»Mark Aurel ist traditionell immer dem Bereich der Popularphilosophie zugewiesen worden«, sagt Benedikt Strobel, Professor für Antike Philosophie an der Universität Trier und Berater der »Landesausstellung Mark Aurel«, die in diesen Tagen eröffnet wird. Mit den Selbstoptimierungsexzessen eines Andrew Tate befasst sich die Schau allerdings nicht, sie fragt vor allem nach dem guten Regieren, schließlich gilt Mark Aurel traditionell als Inbegriff des guten Herrschers. Nach Strobel strebe der stoische Intellektualismus danach, richtige Urteile über die Dinge zu treffen. Das betreffe alle unsere Verhaltensweisen, Gefühle und unseren Vernunftgebrauch. Das Ziel: glücklich zu sein.
Solche Denkmuster haben längst die antike Philosophie verlassen und sind in andere Disziplinen diffundiert. »Ähnliche Konzepte gibt es auch in der aktuellen klinischen Psychologie«, so Strobel. »Der kognitive Ansatz, die Dekonstruktion der eigenen Gefühle, wurde explizit mit Rückgriff auf die Stoiker formuliert. Dahinter steht die Annahme, dass man die eigene Depression durch bestimmte Urteile konstruiert hat und dass man sie durch Korrektur der Urteile auch wieder dekonstruieren oder entsprechend auch positiv verändern kann.«
Längst gibt es unzählige Selbsthilfebücher, Youtube-Kanäle mit Millionen Abonnent:innen und Podcasts, die sich dem Stoizismus verschrieben haben. »Die Renaissance von Mark Aurel steht im Kontext des Bedürfnisses nach Lebensratgebern«, so Strobel. Ausschlaggebend dafür sei, dass die Stoa den Menschen mit einem starken Versprechen von Souveränität und Verfügungsgewalt ausstattet. »Im Mittelpunkt steht die These, dass wir uns auf das konzentrieren sollten, was vollständig in unserer Verfügungsgewalt liegt. Das ist eine simplifizierende Antwort auf verschiedene Überforderungen, mit denen Menschen gerade in der Moderne konfrontiert sind.« Der Stoizismus betone die Souveränität des Individuums über die eigene Lebensführung und die Unabhängigkeit von äußeren Umständen, genau das mache die Philosophie für viele heutige Menschen so attraktiv.
Mentale Stärke mit Abgestumpftheit verwechseln
Doch wenn Tate und Rogan die Stoa auslegen, verwechseln sie mentale Stärke mit Abgestumpftheit. Sie predigen die Taubheit für Bedürfnisse anderer und die Überzeugung, dass man selbst alles und nur das Beste verdient hat. Zugleich drückt sich hier aus, dass das neoliberale Erfolgsversprechen endgültig gebrochen ist und Wohlstand nur noch durch Ausbeutung erreichbar ist. Ein Beispiel dafür ist Tates »The Real World« (vormals »Hustler’s University«), ein kostenpflichtiges Online-Angebot, das lehren soll, wie junge Männer zu Geld, Fitness und Frauen kommen – in erster Linie kommt dabei natürlich Tate selbst zu Geld.
Die Rückbesinnung auf die Stoa kann als Flucht in längst vergangene Zeiten verstanden werden, als die Gesellschaft vermeintlich besser war. Männer sollen sich wieder auf sich selbst konzentrieren und souverän sein. Der Rückschritt in eine Zeit, die von der Gleichheit der Geschlechter nichts wusste, soll die männliche Identität vor dem Zerfall bewahren. Doch »Männlichkeit« muss nicht gerettet werden, weder vor dem Feminismus noch vor Queerness oder dem Sozialismus. Stattdessen muss sie gegen jene verteidigt werden, die sich als sogenannte Alpha-Männer ansehen, die Geschlechterrollen instrumentalisieren und für ihr regressives Weltbild vereinnahmen.
Dass die Manosphere sich ausgerechnet auf Mark Aurel beruft, beruhe auf einem Missverstehen seiner Ideale, sagt Strobel: »Es scheint, dass Leute wie Tate Mark Aurel so interpretieren, als werde Männlichkeit mit Selbstbeherrschung, Vernunft und Kontrolle der Gefühle assoziiert, Weiblichkeit wiederum mit einer Unterlegenheit gegenüber Gefühlen.« Dabei spiele die Geschlechterdichotomie überhaupt keine Rolle in seinen Grundsätzen: »Bei ihm geht es nicht um Männlichkeit, sondern um Menschlichkeit, um den Menschen.«
Der neue Mann: maskulin, autoritär, sozialdarwinistisch
Doch die rechten Pseudostoiker ficht das nicht an. Ihrer Ansicht nach hat ein wild gewordener Feminismus längst dazu geführt, dass Männer und Jungen benachteiligt seien, und ohnehin müsse wieder eine männliche Hierarchie hergestellt werden. Ist das Patriarchat denn besiegt? Mitnichten, im Zeitalter von Jordan Peterson, Jeff Bezos und Elon Musk befindet es sich wieder im Aufschwung. Auch Letzterer behauptete mehrfach, dass die Stoa eine seiner Inspirationsquellen sei.
Einer der zentralen Glaubenssätze der Manosphere ist, dass die in der sozialen Hierarchie am höchsten stehenden zehn Prozent der Männer, die sogenannten high value men, 90 Prozent aller Frauen anziehen. Ergo muss man einer dieser Männer werden. Damit kreiert diese Szene ihren eigenen Mythos: Der neue Mann ist maskulin, autoritär, sozialdarwinistisch; kein Übermensch, sondern ein »Übermann«. So himmeln sie ihr eigenes Geschlecht an und eifern ihrem Ideal hinterher.
Die Philosophie der Mäßigung und Bedachtheit sucht man bei ihnen vergebens. Wüsste Mark Aurel, wie sehr seine auf das Allgemeinwohl bedachte Philosophie missbraucht wird, er würde sich in seinem unbekannten Grabe umdrehen. Oder auch nicht. Sein Körper unterliegt schließlich nicht mehr seiner Kontrolle.