Es war einmal ein Rechtsstaat
Wie groß die unter Konservativen derzeit grassierende Lust am Tabubruch ist, war eindrücklich in der FAZ zu besichtigen. Der dort für »Staat und Recht« zuständige Redakteur Reinhard Müller sah sich Anfang Juni zu der Feststellung genötigt, dass »kein Verwaltungsgericht die Regierungspolitik bestimmt. Auch nicht das in Berlin.« Daher, so Müller, müsse die Regierung »bei ihrer Migrationspolitik bleiben«.
Müller hatte einen Beschluss kommentiert, den das Berliner Verwaltungsgericht am Vortag in einem Eilverfahren gefällt hatte: Direkte Zurückweisungen Asylsuchender bei Grenzkontrollen an den deutschen EU-Binnengrenzen sind demnach rechtswidrig. Genau diese Einschätzung hatten zahlreiche Jurist:innen in den vergangenen Monaten immer wieder geäußert. Gleichwohl hatte der im Mai ins Amt gekommene Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) – der Forderung des Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) folgend – eben jene Zurückweisungen angeordnet.
Merz und Dobrindt begründen ihre Grenzpolitik mit einem vermeintlichen Notstand – obwohl die Asylzahlen im Mai zuletzt im Jahr 2021 so niedrig waren wie im vergangenen Monat.
Dagegen hatten drei Somalier, zwei Männer und eine Frau, geklagt. Sie waren am 9. Mai mit dem Zug aus Polen in Frankfurt (Oder) angekommen. Die Bundespolizei hatte sie kontrolliert. Nachdem die drei angegeben hatten, Asyl beantragen zu wollen, wurden sie am selbem Tag nach Polen zurückgewiesen. Das Gericht folgte ihrer Beschwerde: Deutschland sei nach der Dublin-Verordnung der EU dazu verpflichtet, bei Asylgesuchen, die auf deutschem Staatsgebiet gestellt werden, in jedem Fall das Gesuch vor einer Abschiebung zu prüfen. Sich auf eine Notlage zu berufen, um diese Verpflichtung auszusetzen, sei nicht zulässig.
Die FAZ sah in dem Urteil eine unzulässige Einmischung in die Politik und feuerte Dobrindt an, nicht einzuknicken. Das wäre freilich nicht nötig gewesen. Noch am Tag des Urteils sagte Dobrindt, an der Praxis, Schutzsuchende an den Grenzen abzuweisen, werde sich »aktuell« nichts ändern.
Kanzler Merz nannte die Gerichtsentscheidung nur vorläufig, man wolle das Hauptverfahren abwarten. Die Entscheidung werde das Vorgehen an den Grenzen nicht grundsätzlich in Frage stellen: »Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können«, behauptete Merz. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Hoffmann, verwies darauf, dass in anderen Teilen Deutschlands weitere Einzelfallentscheidungen über zurückgewiesene Asylbewerber zu erwarten seien – möglicherweise mit anderem Ausgang. So gebe es in Bayern eine »relativ restriktive Spruchpraxis«.
Autoritäre und populistische Politiker schränken Grundrechte ein
Unterm Strich taten die Konservativen also genau das, was die FAZ von ihnen verlangte: Sie ignorierten das Urteil. Darin zeigt sich ein seit einiger Zeit immer häufiger zu beobachtendes Muster: Autoritäre und populistische Politiker schränken Grundrechte ein – und wo Menschen- oder Verfassungsrechte ihren Plänen im Weg stehen, wird die Justiz zum Gegner der Volkssouveränität erklärt.
Doch der Frankfurter Juraprofessor Maximilian Pichl wies auf der Plattform Bluesky darauf hin, dass das Verwaltungsgericht Berlin »nicht die ›Politik‹, sondern die Exekutive in Form von Innenministerium und Bundespolizei eingehegt« habe. Die Richter:innen hätten Recht »nicht fortgebildet oder erfunden«, sondern ein »in einem politischen Verfahren beschlossenes Gesetz konkret angewendet«, um »eine obskure Weisung des Innenministeriums ohne demokratische und empirische Begründung als rechtswidrig einzustufen«. Das sei Gewaltenteilung, so Pichl. »Das Rechtsverfahren hat in Erinnerung gerufen, was Politik beschlossen hat. Die Exekutive ist an Recht und Gesetz gebunden – das ist hier eingelöst worden.«
Die Praxis, Gerichtsentscheidungen nassforsch die Rechtmäßigkeit abzusprechen, greift seit längerem um sich. Populist:innen und von diesen angespornte Konservative verbreiten die Vorstellung, es gebe ein vom kodifizierten Recht abweichendes Interesse des Souveräns: eine Art vermeintlich gesunden Volksempfindens, das von Politikern erkannt und gegen rechtliche Hürden durchgesetzt werden müssten. Ist das auf gesetzgeberischem Weg nicht möglich, setzen sich Regierungen oder Behörden in der Praxis einfach über solche Hürden hinweg. Der US-Präsident Trump drückte das kürzlich auf X in aller Konsequenz mit einem Napoleon zugeschriebenen Zitat aus: »Wer das Land rettet, bricht kein Gesetz.«
Über Grundrechte und geltendes Recht hinwegsetzen
Merz und Dobrindt begründen ihre Grenzpolitik immer wieder mit einem vermeintlichen Notstand – obwohl die Asylzahlen im Mai zuletzt im Jahr 2021 so niedrig waren wie im vergangenen Monat. Auch hierzulande wird die Ansicht vertreten, der Staat könne sich bei Bedarf über Grundrechte und geltendes Recht hinwegsetzen. So befürwortete etwa der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler schon vor der Wahl den Vorstoß des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz, eine Notlage auszurufen, um Geflüchtete an den deutschen Grenzen zurückweisen zu können. »Deutschland würde sich nicht mehr an das geltende EU-Recht halten, sondern sein eigenes Ding machen«, sagte Boehme-Neßler der Bild-Zeitung – und sprach von einer »drastischen, aber zumindest kurzfristig sinnvollen Maßnahme«.
In ähnlicher Weise nennt der CDU-Politiker Jens Spahn die Genfer Flüchtlingskonvention – einen integralen Bestandteil der internationalen Menschenrechte – »heute nicht länger praktikabel«. Polen wiederum lobt sich selbstbewusst für Pushbacks an den Außengrenzen, obwohl es damit gegen EU-Recht verstößt. Die EU-Kommission, die die Pushbacks lange »inakzeptabel« genannt hatte, gab dem politischen Druck nach und gestattete es Polen in einer Stellungnahme Ende des Jahres, an den Grenzen »alles Notwendige« zu tun, um die »öffentliche Ordnung und Souveränität zu schützen«.
In Großbritannien entschied der Oberste Gerichtshof Ende 2023, die geplante massenhafte Abschiebung von Asylsuchenden nach Ruanda sei rechtswidrig. Lee Anderson, seinerzeit stellvertretender Chairman (dieser stellt eine Art Geschäftsführer dar) der Konservativen Partei, inzwischen aber zur rechtspopulistischen Konkurrenzpartei Reform UK gewechselt, nannte das Urteil einen »schwarzen Tag für das britische Volk«. Dieses sei »sehr geduldig« gewesen, nun aber wolle es Taten sehen. »Wir sollten das Recht ignorieren und sie (die Ankommenden; Anm. d. Red.) direkt zurückschicken«, sagte Anderson.
In Italien bekam die römische Richterin Silvia Albano im Oktober 2024 Morddrohungen, nachdem sie die Abschiebung von zwölf Asylsuchenden in ein neues Lager in Albanien verboten hatte. Sie erhielt Polizeischutz, ebenso wie drei Staatsanwälte in Palermo. Diese waren von Unbekannten bedroht worden, weil sie eine sechsjährige Haftstrafe für den rechtsextremen Politiker Matteo Salvini wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch beantragt hatten. In dem Prozess ging es unter anderem darum, dass Salvini in seiner Zeit als Innenminister ein Rettungsschiff wochenlang am Einlaufen in einen italienischen Hafen gehindert hatte. Ende vergangenen Jahres wurde Salvini freigesprochen.
Ein angeblich Linksextremer, der mit Grünen und »Asyllobby« unter einer Decke steckt, damit Deutschland weiter mit Flüchtlingen geflutet wird – es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Plot Bedrohungen gegen den Richter nach sich ziehen könnte.
Das rechte Krawallportal Nius des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt mühte sich nach Kräften, gegen die an dem Berliner Urteil beteiligten Richter zu hetzen: »Ein grüner Richter, zwei NGOs und drei Somalis: So lief der Geheimplan der Asyllobby gegen Dobrindts Zurückweisungen«. Nius skandalisierte, dass Pro Asyl die Klage der Somalier unterstützt hatte, und warf dem Richter Florian von A. vor, als Student Mitglied einer Gruppe gewesen zu sein, die vom Verfassungsschutz als »linksextremistisch« eingestuft wurde. Mit dem Urteil habe A. sein »asylpolitisches Lebenswerk« vollendet. Ein angeblich Linksextremer, der mit Grünen und »Asyllobby« unter einer Decke steckt, damit Deutschland weiter mit Flüchtlingen geflutet wird – es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Plot Bedrohungen gegen A. nach sich ziehen könnte.
»Zwei Kolleginnen und ein Kollege haben in Berlin gemeinsam über eine Rechtsfrage zur Zurückweisung von Asylsuchenden entschieden. Deswegen werden sie persönlich diffamiert und bedroht. Das geht zu weit!« schrieben der Verein der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter in Berlin und der Berliner Landesverband des Deutschen Richterbundes in einer gemeinsamen Stellungnahme.
Doch es wird so weitergehen, solange in der Union eine Stimmung herrscht, wie sie die Zeit im Januar beschrieben hatte: Niemand, so sagte demnach ein »Unionsmann«, könne »die Ausreden mehr hören, wegen irgendeines ›Scheiß-Gerichts‹ gehe dies nicht oder wegen des Europarechts oder der Genfer Flüchtlingskonvention jenes nicht«.