Jungle+ Artikel 12.06.2025
Auszug aus Kristina Schilkes Roman »Alles was lebt«

Das Genesungsgeschenk

Eine fast hundertjährige Mutter sorgt sich um ihre verwitwete Tochter – und hat eine Idee, um die über Siebzigjährige aus der Depression herauszuholen. Eine Erzählung.

Der Arzt hatte es verordnet und es wurde gemacht. Jeden Morgen zum Frühstück goss sich Frau Rührlich eine halbe Piccoloflasche Rotkäppchen-Sekt – trocken selbstverständlich – in ihr blaues Spiegelauer Kristallglas und trank es mit den kleinen nachdenklichen Schlucken einer fast Hundertjährigen.

Der Arzt hatte keine Angaben bezüglich der Menge gemacht, er hatte nur gesagt: »etwas Sekt«. Das war vor fast fünf Jahren gewesen, er hatte die Praxis erst eröffnet und mittlerweile standen die Leute Schlange wie vor einer beliebten Bäckerei. Er war – er ist – ein fescher Mann mit vollem Haar. Durch seine Brille mit dem feinen Metallrand sah er Frau Rührlich an, hielt seine Hände ineinander gefaltet, als würde er gleich mit dem Beten beginnen, und hörte zu. Frau Rührlich war nach ihrem Kreislaufkollaps zu ihm gekommen. Von dem Tag in der Notaufnahme des Kreiskrankenhauses hatte sie sich eine Woche lang erholen müssen. Inmitten von Gute-Besserung-Karten und Kuchen bringenden Nachbarn und ihrer Tochter, auch schon über siebzig, die um sie herumgeschwirrt war mit einer Grundnervosität, die sie nie abgelegt hatte. Der neu zugezogene Arzt war der Einzige, der Frau Rührlichs Frage ernst genommen hatte: Was konnte sie tun, damit das nicht noch einmal passierte?

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