Genug nachgetreten
Woke zu sein, ist seit einigen Jahren das geflügelte Wort dafür, sich vermeintlich diskriminierungssensibel und konform mit den Sprach- und Verhaltenscodes des Intersektionalismus zu verhalten. Nicht selten haben damit einhergehende engstirnige bis inquisitorische Praktiken linke Debatten autoritär verengt und emotionalisiert, bisweilen regelrecht zensiert. Das haben rechte Kulturkämpfer aufgegriffen und reaktionäre Positionen mit dem Argument aufgewertet, dass sie wenigstens nicht woke seien. Der russische Despot Wladimir Putin und der US-amerikanischen Präsident Donald Trump bedienen sich dieser Entwicklung. Ist das Anlass, die Kritik an der Wokeness zu überdenken? Dierk Saathoff plädiert dafür, sich mit der Kritik an der Wokeness besser zwischen alle Stühle zu setzen, als in der rechten Antiwoke-Bewegung die Feinde seiner Feinde auszumachen (»Jungle World« 20/2025). Holger Marcks sieht in der Wokeness der Linken ein Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie (21/2025). Jens Kastner und Lea Susemichel verteidigen die revolutionären Ursprünge der Wokeness (23/2025).
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John Ramsay McCulloch war ein schottischer Nationalökonom. Er lebte von 1789 bis 1864, lehrte am University College London, war ein Schüler des berühmten Nationalökonomen David Ricardo und veröffentlichte unter anderem ein Wörterbuch des Handels. Heutzutage ist McCulloch weitgehend vergessen.
Wenn sich überhaupt jemand an ihn erinnert, dann einzig deshalb, weil Karl Marx ihn in »Das Kapital« hin und wieder als Gegner auserkor. Marx präsentierte seine eigenen Ideen gern in Form einer Polemik gegen Ökonomen oder Unternehmer, die damals bekannt waren. Was jemand wie McCulloch tatsächlich geschrieben hatte, interessiert heute kaum mehr jemanden. Es kommt darauf auch gar nicht mehr an. Denn dem Weltgedächtnis ist er nur erhalten geblieben als ein Prügelknabe, auf den Marx nach Belieben einschlug.
Ungefähr so steht es um die Wokeness, die zwei Jahrhunderte jünger ist als McCulloch. Auch sie gibt es mittlerweile fast ausschließlich als Prügelknabe ihrer Gegner. Unterschiede gibt es eigentlich nur noch in der Richtung, von der aus draufgehauen wird – von links oder rechtsextrem, liberal oder sonst woher.
Gibt es irgendwen, der sich heute noch selbst als »woke« bezeichnen würde? Hat die Wokeness überhaupt noch eine Bedeutung, die ihr nicht durch ihre Gegner verliehen wird? Klar: Sie hat irgendwie damit zu tun, sich über Diskriminierung zu empören. Das war es dann aber auch schon.
Es gibt inzwischen ein ganzes Genre an antiwoken Sachbüchern.
Beleg gefällig? Die bisherigen Autoren in dieser Disko-Reihe sind sich ganz und gar nicht einig, was überhaupt »woke« ist. Dierk Saathoff übersetzte das Wort mit »Identitätspolitik« und kritisierte diese als autoritär. Holger Marcks behauptete, »woke« sei ein Gestus moralischer Selbstüberhöhung und darüber hinaus ziemlich gleichbedeutend mit der heutigen Linken insgesamt. Das dürfte wohl eine polemische Verallgemeinerung gewesen sein. Jens Kastner und Lea Susemichel haben dagegen versucht, die Wokeness zu retten, und sahen ihren Kern in der »politischen Relevanz von Alltagspraxis«. Das könnte so ziemlich alles meinen, vom freundlichen Umgang miteinander bis zum Palmölverzicht.
Was Wokeness ist, das entscheiden in der Regel ihre Kritiker. Und die sind überall. Im Feuilleton wurde in den vergangenen Jahren auf die Wokeness eingedroschen. Als die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman 2023 ihre plumpe Streitschrift »Links ist nicht woke« veröffentlichte, landete die prompt an der Spitze der deutschen Sachbuch-Bestenliste. Es gibt inzwischen ein ganzes Genre an antiwoken Sachbüchern. Selbst Jens Balzer, der sich an eine Verteidigung woker Ideale wagte, wählte für sein Essay den Titel »After Woke«. Die Rettung der Wokeness schien ihm nur möglich mittels Distanzierung.
Selbstverständlich hat Holger Marcks recht mit seinem Hinweis, dass die linke Kritik an Wokeness nicht dadurch falsch wird, dass es auch Häme von rechtsaußen gibt. »Woke« waren nicht selten Leute, die mit sehr viel Sendungsbewusstsein in den sozialen Medien moralische Aufrufe teilten. Dazu kam gelegentlich ein ganz schön autoritärer Auftritt, und allzu oft wurde die Welt in gute und böse Menschen sortiert. Das Nachdenken wurde durch einen Kulturkampf ersetzt und Politik durch Empörung. Zu allem Übel galt es gar nicht so wenigen als woke, Antisemit zu sein.
Plumpe Feindbilder und stalinistisches Lagerdenken
All das gibt es weiterhin, vielleicht ist einiges sogar schlimmer geworden. Plumpe Feindbilder und stalinistisches Lagerdenken kommen derzeit gut an – und die Kritik am Antisemitismus ist notwendiger denn je. Und dennoch: Das Eindreschen auf eine woke Bewegung wurde vom Lauf der Dinge überholt.
Vor wenigen Jahren noch wurde anders über Wokeness diskutiert, manchmal zumindest. Es ging weniger um ein skurriles Szene- und Bewegungsphänomen und eher darum, was sie mit der Gesellschaft im Ganzen zu tun hat. Holger Marcks hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass »woke« und »antiwoke« zwei Seiten in einem Kulturkampf sind, der »zwischen soziopolitischen Milieus« geführt wird. Es so zu sehen, war gefühlt bis gestern common sense.
Mal hat man mit der US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser den »progressiven Neoliberalismus« verurteilt, also die Eintracht von Unternehmensinteressen, neoliberaler Politik und progressiven sozialen Bewegungen. Als Reaktion darauf sei nämlich Donald Trumps volks- und arbeitertümelnder Autoritarismus stark geworden.
Mal wurde auf den »neuen Geist des Kapitalismus« geschimpft, den in Frankreich der Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello so getauft hatten. Der setze immer weiter entgrenzte Arbeitsverhältnisse mit dem Versprechen von Selbstverwirklichung durch und überantworte Arbeitsplatzverlust und Armut der Eigenverantwortung jedes Einzelnen.
»Postmoderner Kapitalismus«
Boltanski und Chiapello hatten das zwar schon 1999 behauptet und auf das späte 20. Jahrhundert gemünzt, aber das schien nicht so wichtig, und wer es aktueller haben wollte, sprach eben vom »postmodernen Kapitalismus« und fügte hinzu: Der »neue Geist« passt zur Dienstleistungs- und Marketingwirtschaft der Bundesrepublik; Diversity, Nachhaltigkeit und Empowerment würden zu unerlässlichen Werbebotschaften. Der Hang zur äußersten Rechten sei eine Reaktion der Vergessenen und Zurückgebliebenen darauf, dass sie in dieser Welt nicht mehr mitkämen.
Mal nahm man sich mit dem deutschen Kultursoziologen Andreas Reckwitz die »neue Mittelklasse« vor, deren großstädtisch-kosmopolitische Matcha-Latte-Kultur sich gut vertrage mit den Anforderungen, die die postindustrielle Arbeitswelt stelle: Kreativität und Risikobereitschaft. Die traditionelle Mittelschicht hingegen orientiere sich aus Verunsicherung wieder stärker an ihren althergebrachten Werten wie Sicherheit, Disziplin und Fleiß, hieß es.
Die Ideen ließen sich vermengen, die Begriffe gingen durcheinander, und doch liefen sie auf etwas Ähnliches hinaus. Gut möglich, dass es immer mehr eine zeittypische Ahnung als eine Analyse war: Der Linksliberalismus, man könnte auch sagen: die Wokeness setzt sich als politische Kultur durch, meinte man. Sie wird getragen von einem eher gebildeten, eher wohlhabenden, eher progressiven Milieu. Das fühlt sich wohl in der auf Flexibilität und Eigenverantwortung getrimmten Arbeitswelt. Und mit dem Siegeszug der Wokeness verstummt die Kritik an Stress und Niedriglohn.
Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass Unternehmen ihre Interessen genauso gut ohne freundlichen Anstrich durchsetzen können.
Die Ahnung, dass es so ausgehen könnte, legte mehrere Reaktionen nahe. Manche forderten, die Errungenschaften der angeblich glorreichen Nachkriegszeit, der industriellen Bundesrepublik, zu verteidigen, als da wären: Feierabend, Kündigungsschutz, Sozialstaat. Andere warben für eine neue Klassenpolitik, die die kulturellen Fehden zwischen den Lohnabhängigen überwinden helfen sollte. Ganz viele waren sich einig, dass sich die Wokeness weiter ausbreiten würde – und richteten ihre Kritik darum auf sie.
Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass Unternehmen ihre Interessen genauso gut ohne freundlichen Anstrich durchsetzen können. Die geplante Abschaffung des Achtstundentags wird mit dem Wohl der deutschen Volkswirtschaft begründet, nicht mit Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.
In den USA führt die Regierung Trump einen – derzeit erfolgreichen – Kulturkampf gegen die Wokeness. Politisch wurde diese weitgehend abgeräumt. Darauf hat Dierk Saathoff an dieser Stelle bereits hingewiesen und ganz richtig festgestellt: »Die Wokeness anzuprangern, dient hier lediglich als Feigenblatt dafür, durch und durch reaktionäre Politik durchzusetzen.«
Antidiskriminierungsrichtlinien zurückgeschraubt
Jens Kastner und Lea Susemichel haben hinzugefügt, was das konkret bedeutet. Zum Beispiel die Abschaffung von Antidiskriminierungsprogrammen, die in den USA unter dem Label »diversity, equity, and inclusion«, kurz: DEI verbreitet sind. Im Januar dieses Jahres hat Präsident Trump mittels einer executive order alle staatlichen DEI-Programme beendet.
Ganz im Sinne des Kampfs gegen die Wokeness hat der Supreme Court bereits im Juni 2023 viele affirmative action-Programme von US-Universitäten für verfassungswidrig erklärt. Bewerber dürfen also nicht mehr bevorzugt werden, weil sie von rassistischer Diskriminierung betroffen sind.
Seitdem haben Weltkonzerne wie Google, Meta, Disney, Ford und Amazon ihre Antidiskriminierungsrichtlinien zurückgeschraubt. Der deutsche Softwarekonzern SAP gab im Mai sein Programm zur Frauenförderung in den USA auf. Merke: Die Abschaffung der Antidiskriminierungsprogramme hat nirgends dazu geführt, dass weniger Flexibilität oder Eigenverantwortung von den Leuten gefordert würde oder der Sozialstaat wiederauferstanden wäre.
Blickt man auf die Gesellschaft im Großen, dann ist die Wokeness erledigt.
Blickt man auf die Gesellschaft im Großen, dann ist die Wokeness erledigt. Die Ahnung, dass sie sich als politische Kultur weiter durchsetzen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Vielleicht sind die Debatten über »progressiven Neoliberalismus« und »postmodernen Kapitalismus« deshalb verstummt, weil unübersehbar geworden ist, dass an ihnen etwas nicht mehr stimmt.
Sich zu irren, ist ganz normal. Man sollte halt nur zur Kenntnis nehmen, wenn dem so ist. Weiter auf die Wokeness einzudreschen, ist anachronistisch geworden.