Ein Ende des Chaos
Zweieinhalb Stunden Ausnahmezustand, sechs Monate Chaos: Nach einer schweren Verfassungskrise wählten die Südkoreaner am Dienstag vergangener Woche ihren neuen Präsidenten in einer vorgezogenen Wahl. Aus dieser ging Lee Jae-myung von der liberalen Demokratischen Partei (DP) als klarer Sieger hervor und wurde schon am Folgetag vereidigt, was ihn in der präsidialen Demokratie des Landes für fünf Jahre zum Staats- und Regierungsoberhaupt sowie zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte macht.
Am 3. Dezember 2024 hatte der damalige Präsident Yoon Suk-yeol überraschend das Kriegsrecht über das Land verhängt, womit politische Aktivitäten verboten und die Medien einer strengen Kontrolle unterworfen wurden. Das Parlament hob den Notstand innerhalb kurzer Zeit wieder auf.
Erst im zweiten Anlauf, am 14. Dezember, stimmte die Nationalversammlung für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon, das mit einem entsprechenden Urteil des Verfassungsgerichts am 4. April endete. Damit wurde Yoon endgültig des Amts enthoben, nachdem zuvor schon Ministerpräsident Han Dong-hoon die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Yoon verbrachte knapp zwei Monate in Untersuchungshaft, wobei der Polizei seine Verhaftung erst am 15. Januar gelang – sein Sicherheitspersonal und zahlreiche Demonstranten hatten zuvor mehrere Festnahmeversuche blockiert.
Obwohl Lee während seiner Amtszeit Immunität genießt, könnten die laufenden Verfahren gegen ihn seine politische Zukunft gefährden.
Während Lee die Präsidentschaftswahl 2022 nur mit einem knappen Rückstand von 0,73 Prozentpunkten gegen Yoon verloren hatte, gewann er die jetzige Wahl mit 49,4 Prozent der Stimmen und einem deutlichen Vorsprung vor dem Zweitplatzierten, Kim Moon-soo von der konservativen Partei Macht des Volkes (PPP), der auf knapp 41,2 Prozent kam. Die Wahlbeteiligung erreichte mit knapp 79,4 Prozent den höchsten Wert seit 28 Jahren, womit die Südkoreaner ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, das demokratische System nicht gegen eine Rückkehr zur Diktatur einzutauschen, wie sie bis 1987 existierte. So konnte Lee auch die höchste absolute Stimmenzahl in der Geschichte der südkoreanischen Republik für sich verbuchen.
Die PPP hatte es im Wahlkampf nicht vermocht, sich ausreichend von Yoon abzugrenzen, dessen Kriegsrechtsausrufung seine Partei stark belastete und deren Wählerschaft spaltete. Auch der Parteiaustritt Yoons kurz vor der Wahl konnte daran nichts mehr ändern. Kim hatte Yoons Amtsenthebung abgelehnt und das anderslautende Urteil des Verfassungsgerichts als »undemokratisch« kritisiert.
Zudem vergeudete die Partei die angesichts der kurzen Wahlkampfphase wertvolle Zeit mit einem chaotischen Auswahlprozess: Um drei Uhr morgens kurz vor Fristende der Kandidatenausrufung tauschte die PPP den bereits gewählten Kim gegen Ministerpräsident Han aus, nur um dies kurz darauf wieder zu revidieren. Es blieben knapp drei Wochen für die Wahlkampagne Kims, der bis 1992 noch als Arbeiteraktivist in einer von ihm mitgegründeten linken Partei tätig gewesen war, bevor er zwei Jahre später zur PPP wechselte.
Verdacht der Korruption
Lees Wahlsieg im zweiten Anlauf lässt sich also vor allem auf die Schwäche seines Gegners zurückführen. Seine persönliche Geschichte ist allerdings beeindruckend: Als fünftes von sieben Kindern in bitterer Armut geboren, meldete sein Vater ihn erst verspätet bei den Behörden, weshalb sein genaues Geburtsdatum bis heute unbekannt ist. In seiner Jugend verrichtete Lee harte Fabrikarbeit, wobei er Verletzungen erlitt, darunter einen Handgelenkbruch, der eine dauerhafte Behinderung zur Folge hatte. Schließlich machte er sich als Menschenrechtsanwalt für Arbeiterrechte einen Namen, begann eine politische Karriere und wurde Gouverneur der Provinz Gyeonggi-do. Am 2. Januar 2024 überlebte Lee einen Messerangriff eines politischen Gegners.
Allerdings laufen gegen ihn auch mehrere Strafverfahren, darunter eines wegen des Verdachts der Korruption bei einem Bauprojekt während seiner Amtszeit als Bürgermeister von Seongnam. Zudem wird Lee vorgeworfen, in illegale Geldtransfers nach Nordkorea verwickelt gewesen zu sein. Einem weiteren Vorwurf nach soll Lee bei der Präsidentschaftswahl 2022 durch die Verbreitung von Falschinformationen gegen das Wahlrecht verstoßen haben. Die erste Anhörung dieses Verfahrens war für den 18. Juni angesetzt, der vom 15. Mai verschoben wurde, um dem Angeklagten als Präsidentschaftskandidaten gleiche Bedingungen im Wahlkampf zu ermöglichen.
Obwohl Lee während seiner Amtszeit als Präsident Immunität genießt, könnten die Verfahren seine politische Zukunft gefährden. Nach derzeitiger Rechtslage könnte es bei einer Verurteilung abhängig vom Strafmaß sogar zu einer Neuwahl kommen. Juristisch umstritten ist, ob Artikel 84 der Verfassung dahingehend auszulegen ist, dass die Immunität des Präsidenten nur für Straftaten in der Amtszeit oder auch für laufende Verfahren gilt. Am Montag gab das Berufungsgericht in Seoul bekannt, die Anhörung abzusagen und »zu einem späteren Zeitpunkt« aufzunehmen – das Verfahren auf unbestimmte Zeit auszusetzen scheint daraufhin zu deuten, dass sich das Gericht der letztgenannten Gesetzesauslegung angeschlossen hat, und dass das Verfahren gegen Lee für die Dauer seiner Amtszeit ausgesetzt werden muss. Mit Spannung wird erwartet, ob das Parlament die Kontroverse beendet, indem es eine bereits entworfene Strafprozessreform verabschiedet.
Pragmatisch gegen die drängendsten Probleme des Landes
Die im Vergleich zur PPP progressivere DP verfügt nun sowohl über das Präsidentenamt als auch über eine komfortable Mehrheit in der Nationalversammlung, dem Einkammerparlament des Landes. Dies ermöglicht es der DP, bis zur regulären Parlamentswahl im April 2028 ihre Gesetzesvorhaben voranzutreiben. Dennoch wird Lee voraussichtlich keine großen Veränderungen in der südkoreanischen Politik herbeiführen, sondern sich pragmatisch den drängendsten Problemen des Landes widmen.
Zu seinen wichtigsten Vorhaben zählen die Belebung der Wirtschaft und der Kampf gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, wobei die vom US-Präsidenten Trump verhängten Zölle für die exportorientierte Wirtschaft ein großes Problem darstellen. Eine weitere Herausforderung ist die niedrige Geburtenrate, die den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem vor enorme Herausforderungen stellt. In der Außenpolitik verspricht er, eine ausgewogene Diplomatie anzustreben, die sowohl die traditionelle Allianz mit den USA stärkt als auch den Dialog und die Zusammenarbeit mit Nordkorea und China fördert.