Ins Netz gegangen
Die vom ukrainischen Geheimdienst veröffentlichten Aufnahmen der »Operation Spinnennetz« wirken wie Szenen aus einem Actionfilm. Im Rahmen der Operation erfolgten am 1. Juni Drohnenattacken auf vier verschiedene Militärflughäfen in Russland. Die Aufnahmen zeigen den Drohnenanflug auf geparkte Flugzeuge und anschließende Explosionen. In der Oblast Irkutsk nahe der mongolischen Grenze und der nordwestlichen Oblast Murmansk an der Grenze zu Finnland kam es zu erheblichen Schäden, während nahe der Städte Rjasan und Iwanowo östlich von Moskau offenbar kein Feuer ausbrach. Ein geplanter Angriff in der im Äußerten Osten des Landes gelegenen Oblast Amur schlug fehl.
Insgesamt vermeldete die ukrainische Regierung 41 zerstörte und beschädigte Militärflugzeuge – Zahlen, die sich nicht unabhängig bestätigen lassen. Das russische Verteidigungsministerium machte keine näheren Angaben, während es aus dem Außenministerium hieß, dass alle beschädigten Maschinen reparabel seien. Satellitenaufnahmen lassen nach unterschiedlichen Einschätzungen darauf schließen, dass mindestens elf strategische Bomber der russischen Luftwaffe komplett zerstört wurden, vermutlich auch eine Transportmaschine und ein Aufklärungsflugzeug.
In der Nacht auf Montag erlebte die ukrainische Bevölkerung den bislang intensivsten Raketen- und Drohnenbeschuss seit Beginn der russischen Vollinvasion 2022.
Drohnenattacken im europäischen Teil Russlands kennt man aus diesem Krieg schon länger. Dass jedoch selbst das Tausende Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernte Hinterland ukrainischen Angriffen ausgesetzt ist, hätte bis vor kurzem wohl kaum jemand für möglich gehalten. Was am 1. Juni passiert ist, sprengt den Rahmen des bislang praktisch Vorstellbaren. »Das war wohl eine der brillantesten Operationen in unserer Geschichte«, sagte Roman Pohorilyj, der Gründer von Deepstate, einer Vereinigung ukrainischer Militäranalysten, der BBC.
Mit dieser Bewertung dürfte Pohorilyj nicht alleine dastehen. Über 100 Drohnen waren in Containern nach Russland geschmuggelt und später auf Lastkraftwagen geladen wurden. Die Fahrer erhielten, angekommen in der Nähe der russischen Basen, die Anweisung, anzuhalten. Per Fernsteuerung öffneten sich die Containerdächer, die Drohnen hoben ab und flogen ihre jeweiligen Ziele an. Weil der Angriff völlig unerwartet erfolgte, blieb dem russischen Militär an Ort und Stelle keine Zeit, ihn abzuwehren. Lediglich einige überrumpelte Beobachter versuchten vom Boden aus vergeblich, die Flugkörper zu treffen.
Anderthalb Jahre dauerten die Vorbereitungen für diesen Überraschungsschlag, der praktisch vor den Augen des russischen Geheimdiensts FSB geplant wurde – Präsident Wolodymyr Selenskyj zufolge befand sich die Kommandozentrale für den Angriff direkt neben einem FSB-Hauptquartier in Russland. Dies und dass alle beteiligten Ukrainer das Land noch vor der Operation unbehelligt verlassen hätten, hob Selenskyj besonders hervor. Die inzwischen verhafteten russischen Fahrer seien, so der ukrainische Präsident, nicht eingeweiht gewesen.
Wiederholbar dürfte eine Operation wie »Spinnennetz« nicht sein
Noch am Tag des Angriffs fanden in einem Industriegebiet der lediglich 150 Kilometer von der kasachischen Grenze entfernten Stadt Tscheljabinsk erste Durchsuchungen und Festnahmen statt. Dort, so vermuten die Ermittler, wurden die Drohnen gelagert, präpariert und verladen. Vermieter und Mieter des Lagergebäudes wurden festgenommen, der Hauptverdächtige Artjom Timofejew befand sich zu dem Zeitpunkt bereits außer Landes.
Dieser, ein gebürtiger Ukrainer mit russischem Pass und ehemaliger DJ, soll gemeinsam mit seiner Frau Ekaterina einige Tage zuvor nach Kasachstan ausgereist sein, führt der russische Telegram-Kanal Baza aus. Ob seine Frau, Tattoo-Künstlerin aus Kiew, in die Pläne ihres Manns eingeweiht war, ist unklar, beide sollen Unterstützer der Maidan-Proteste gewesen sein. Ekaterina Timofejews nahe Angehörige leben nach wie vor in der Ukraine, während die ihres Manns in Tscheljabinsk ansässig sind. Beide Ehepartner sind in Russland zur Fahndung ausgeschrieben.
Zwar ist es rein theoretisch denkbar, dass sich in Russland nach wie vor Personen aufhalten, die ein ähnliches Manöver planen, doch wiederholbar dürfte eine Operation wie »Spinnennetz« nicht sein. Der Sicherheitsapparat wird bestrebt sein, allen noch so geringen Verdachtsmomenten nachzugehen, jedenfalls so weit es die Personalkapazitäten zulassen. Außerdem wird das Verteidigungsministerium daran arbeiten, sich in Zukunft besser abzusichern, indem Flugzeuge beispielsweise nicht mehr unter freiem Himmel abgestellt werden, sondern in speziell dafür vorgesehenen Hangars. Entsprechende Arbeiten lassen sich bereits beobachten.
Zu Sowjetzeiten hergestellte Ersatzteile
Hinsichtlich der Folgen für Russlands strategische Luftwaffe kursieren unterschiedliche Einschätzungen. Es ist nicht einmal klar, wie viele der getroffenen Flugzeuge überhaupt einsatzbereit waren. Einige der Maschinen sind jedoch Einsätze gegen die Ukraine geflogen, und Russlands Rüstungsindustrie ist kaum in der Lage, neue strategische Flugzeuge zu produzieren. Immer noch verwendet man zu Sowjetzeiten hergestellte Ersatzteile. Da die strategischen Bomber auch den Einsatz von Atomwaffen ermöglichen, könnte die »Operation Spinnennetz« theoretisch das russische atomare Abschreckungspotential vermindert haben, wenn auch nur geringfügig. Den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine wird sie aber kaum beeinflussen.
Der russische Präsident Wladimir Putin ließ sich mehre Tage Zeit, bis er öffentlich auf den ukrainischen Angriff reagierte und Gegenschläge ankündigte. Auch bei einem Telefonat mit seinem US-Amtskollegen Donald Trump stellte Putin klar, dass er beabsichtige, mit Härte zu reagieren. In der Nacht auf Montag erlebte die ukrainische Bevölkerung den bislang intensivsten Raketen- und Drohnenbeschuss seit Beginn der Vollinvasion 2022.
Bei erneuten Gesprächen in Istanbul, wo Russland und die Ukraine am 2. Juni einen weiteren Gefangenenaustausch vereinbarten, wurde die Frage nach der Beendigung von Kriegshandlungen ausgeblendet. Derweil verdichten sich Hinweise, wonach russische Militäreinheiten vom Donezker Gebiet aus die Grenze zur ukrainischen Oblast Dnipropetrowsk überschritten haben. Aus dem Kreml hieß es dazu, Russland plane die Einrichtung einer Pufferzone.