12.06.2025
1956 spielte Ungarn eine dramatische Partie Wasserpolo gegen die UdSSR

Das Blutbad von Melbourne

Das Wasserball-Match zwischen Ungarn und der UdSSR bei den Olympischen Spielen in Melbourne 1956 war nicht nur ein Sportereignis, sondern auch ein bluternstes Politikum. Denn es fand kurz nach der sowjetischen Niederschlagung des ungarischen Aufstands statt.

In der Sowjetunion war Wasserball so gut wie unbekannt, bis Stalin plötzlich Ende der vierziger Jahre, anscheinend von einem Geistesblitz getroffen, in der Sportart ein ausgezeichnetes Propagandamittel erkannte. Also ordnete er an, die Grundlagen schnellstmöglich zu erlernen. Und zwar von den Besten: den Ungarn. Denn Wasserpolo, wie die Sportart auch genannt wird, war im Nachbarland schon lange beliebt und erfolgreich. Von da an konnte man bei den meisten Meisterschaftsspielen immer wieder fleißig notierende Späher antreffen.

Sobald es gelungen war, einige junge Athleten zu finden, die gut schwimmen und zugleich einigermaßen mit einem Ball umgehen konnten, wurde die ungarische Nationalmannschaft nach Moskau beordert, um gegen die sowjetische Auswahl anzutreten. Bei diesen Anlässen saßen auf den Tribünen des Moskauer Schwimmbads Scharen von Schreibern, aber auch Filmkameras ratterten unaufhörlich.

Die Neulinge erwiesen sich als talentiert, und die sowjetische Sportführung fasste bald die Olympischen Spiele ins Auge. Bereits im ersten offiziellen Vorbereitungsspiel erlitt die sowjetische Mannschaft nur eine knappe 8:6-Niederlage. Das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatte jedoch klar festgelegt, dass sie nur dann für Olympia in Frage kommen würde, wenn sie die Ungarn in mindestens einer ihrer Begegnungen bezwingen.

Vor Melbourne konnten die sowjetischen Lehrlinge ihre ungarischen Meister kein einziges Mal besiegen.

Dazu musste der sowjetischen Mannschaft unter die Arme gegriffen werden, was auch geschah. Bei einem der Wettbewerbe pfiff der sowjetische Unparteiische, den Wünschen der Partei entsprechend, derart engagiert gegen das ungarische Team, dass die Sowjetunion als Gewinnerin hervorging. Damit war die Mannschaft für die Olympischen Spiele 1952 in Helsinki qualifiziert. Dort gewann Ungarn Gold, die So­wjet-Auswahl holte sich verdient den siebten Platz. Obwohl die meisten Sowjetbürger ein paar Jahre zuvor wohl noch nicht einmal gewusst hatten, dass es so etwas wie Wasserball gab, hatten sie sich also gut etabliert.

In den folgenden vier Jahren, also bis zu den nächsten Olympischen Spielen, trafen die beiden Mannschaften mehrmals im Jahr aufeinander. Kein einziges Mal konnten die Lehrlinge ihre Meister besiegen.

Die Olympischen Spiele 1956 wurden im weit entfernten Australien, in Melbourne, ausgetragen. Aufgrund der gegensätzlichen Jahreszeiten in der südlichen Hemisphäre fanden die Sommerspiele im Dezember statt. Um genug Zeit zu haben, den Jetlag zu überwinden und sich zu akklimatisieren, sollte die 111köpfige ungarische Olympia-Delegation schon am 24. Oktober nach Australien reisen.

In Budapest gestrandet

Doch am 23. Oktober brach in Budapest ein antisowjetischer Aufstand aus, der alle Pläne durcheinanderbrachte. Was als friedliche Studentendemonstration begonnen hatte, dehnte sich von Stunde zu Stunde aus. Am Abend forderten schon Hunderttausende den Abzug der sowjetischen Besatzer und die Ablösung der verhassten stalinistischen Führung. Als dann vor dem Gebäude des staatlichen Rundfunks Schüsse fielen, kochten die Gemüter hoch. Die Menschen gelangten an Waffen, überall in der Stadt bildeten sich Kampfgruppen.

Die Athleten sollten von der französischen Fluggesellschaft Transports aériens intercontinentaux (TAI) ausgeflogen werden, aber diese verweigerte wegen der unsicheren Lage die Landung in Budapest. Und so waren die Sportler in der Hauptstadt gestrandet.

Am 28. Oktober schien die Revolution gesiegt zu haben und die sowjetischen Truppen begannen abzurücken. Die Sportler fuhren mit dem Bus nach Prag, da die TAI sie nur von dort abholen wollte. Nach einer insgesamt einwöchigen sehr anstrengenden Reise mit zwei Flugzeugen über die Strecke Prag–Athen–Karachi–Bombay kamen sie schließlich in Australien an.

Am selben Tag, an dem die ungarischen Sportler ihre lange Reise antraten, hatte sich jedoch herausgestellt, dass der Abzug der Sowjetarmee nur eine Finte gewesen war. Diese drehte um und griff mit einer noch größeren Streitmacht als zuvor an. Trotz des erbitterten Widerstands scheiterte der ungarische Freiheitskampf.

Ungarische Raumdeckung

Die Wasserpoloauswahl war erschüttert über diese Nachricht, musste sich jedoch auf die bevorstehenden Wettkämpfe konzentrieren. Ihren ersten Gegner in der Gruppenphase, Großbritannien, besiegten sie mit 6:1, danach die Vereinigten Staaten mit 6:2.

Anfang Dezember kam es zur Runde der letzten sechs, die sich aus den Erst- und Zweitplatzierten der drei Gruppen zusammensetzte. Dazu muss man wissen, dass es damals kein Halbfinale im heutigen Sinne gab, sondern sich die Mannschaften in einem Jeder-gegen-jeden-Turnier messen mussten. Die Ungarn blieben nach den ersten drei Partien gegen Italien, die USA und Deutschland unbesiegt. Als Nächstes kam das Match mit der Sowjetunion.

Das Team der Ungarn entschloss sich, Raumdeckung zu spielen und damit die Abwehrarbeit auf die gesamte Mannschaft zu verteilen. Das war ein gefährliches Unterfangen, denn noch nie zuvor war im Wasserball diese – im Fußball bewährte – Taktik angewendet worden. Die Mannschaft hatte sie sich erst am Vorabend ausgedacht, das heißt, sie war in keinem einzigen Training geübt worden.

Von Beginn an feuerte das Publikum die ungarische Mannschaft ekstatisch an. Jedes Mal, wenn die So­wjets den Ball auch nur berührten, ertönte ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert.

Das Spiel wurde mit großer Spannung erwartet. Nicht nur die Exil-Ungarn, sondern auch die Australier trugen viel zu einer stürmischen Atmosphäre bei, die durch die blutige Niederschlagung der ungarischen Revolution angeheizt wurde. Der Andrang in der Schwimmarena war beispiellos. Berichten zufolge zahlten manche Leute 30 bis 40 Australische Pfund (wie die Landeswährung bis 1966 hieß) für ein Ticket, das ursprünglich zwei Pfund gekostet hatte. Auf den Rängen drängten sich die Zuschauer wie die sprichwörtlichen Sardinen in der Büchse, denn auf 6.000 Plätzen saßen 8.000 Leute.

Von Beginn an feuerte das Publikum die ungarische Mannschaft ekstatisch an. Jedes Mal, wenn die So­wjets den Ball auch nur berührten, ertönte ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. Dieser furchterregende Jubel beflügelte die ungarische Nationalmannschaft und lähmte ihre Gegner. Von der ersten Minute an kamen die Sowjets mit der unbekannten Taktik der Rivalen nicht zurecht. Das erste Tor des Spiels, das von gegenseitigen Beschimpfungen und Beleidigungen begleitet war, erzielte die ungarische Mannschaft durch einen Viermeter. Das zweite ungarische Tor brachte die Stimmung zum Überkochen.

Langsam verteilte sich das Blut über den nassen Körper 

Nach dem dritten Tor begannen die Sowjets, verärgert über die heftigen Anfeindungen, immer ruppiger zu spielen. Als der Ball zum vierten Mal im Netz landete, konnte sich Walentin Prokopow nicht mehr beherrschen. Er versuchte absichtlich, seinem Gegenspieler Ervin Zádor einen Ellenbogencheck zu verpassen, nachdem dieser ihn auf Russisch beschimpft hatte – auch das gehörte zur ungarischen Strategie. Zwar konnte dieser im letzten Moment seinen Kopf zur Seite drehen, der Schlag traf ihn dennoch an der rechten Augenbraue. Blut quoll aus der Platzwunde.

Als der blutende Spieler ausgewechselt wurde, stieg er nicht vor der ungarischen Bank aus dem Wasser, sondern medienwirksam auf der anderen Seite des Beckens. So musste er an der Tribüne vorbei, wo jeder sehen konnte, wie sich das Blut langsam über seinen nassen Körper verteilte. Das brachte die Zuschauer in Rage, einige sprangen sogar über die Brüstung und versuchten, die Sowjets zu verprügeln.

Eine Massenschlägerei drohte. Doch eine Minute vor Ablauf der regulären Spielzeit rief jemand vom Kampfrichtertisch: »Das Spiel ist vorbei, die Ungarn haben gewonnen!« Der Endstand war 4:0. Während die sowjetischen Spieler von der Polizei aus der Halle eskortiert werden mussten, feierte die Menge die Sieger hemmungslos. In der gemeinsamen Umkleidekabine musste die Polizei die beiden Mannschaften trennen.

Das wohl berühmteste Wasserballspiel aller Zeiten ist als »Blutbad von Melbourne« in die Sportgeschichte eingegangen. Die Budapester Presse hingegen hielt sich mit ihrer Berichterstattung sehr zurück, wohl um die sowjetische Führung nicht zu verärgern.

Weltweit druckten Zeitungen das Foto des blutigen Zádor. Das wohl berühmteste Wasserballspiel aller Zeiten ist als »Blutbad von Melbourne« in die Sportgeschichte eingegangen. Die Budapester Presse hingegen hielt sich mit ihrer Berichterstattung sehr zurück, wohl um die sowjetische Führung nicht zu verärgern. Die Zeitung Sport verlor kein Wort über den Krawall: »Athleten, die gerade frei hatten, versammelten sich am frühen Nachmittag in der Schwimmhalle, um unsere Wasserballer in dem zu erwartenden harten Kampf zu unterstützen. (…) Die sowjetische Mannschaft kämpfte hart, manchmal zu hart, aber sie konnte einen Sieg nicht verhindern. In den letzten Sekunden des Spiels schlug einer ihrer Verteidiger Zádor in der Hitze des Gefechts auf das Auge und riss die Haut am Augenlid des Stürmers auf.«

Am nächsten Abend bezwang die ungarische Nationalmannschaft den letzten Gegner, Jugoslawien, und errang somit Gold. Die Olympiasieger wurden zu Hause gefeiert, auch weil sie im Schwimmbecken symbolisch Rache für die brutale Niederschlagung des Aufstands genommen hatten. Allerdings fehlten sechs Teammitglieder – die hatten sich in den Westen abgesetzt. Fünf kehrten später nach Ungarn zurück, nicht aber Zádor. Er ging in die USA, wo er ein erfolgreicher Schwimmtrainer wurde. Er betreute unter anderem Mark Spitz, der 1972 bei den Olympischen Spielen in München märchenhafte sieben Goldmedaillen gewann – alle mit Weltrekord.