Bloß nichts verdrängen
Während auf allen Kanälen die Nationalgarde durch L.A. marschiert und das Gummigeschoss, das eine australische Reporterin traf, im Netz längst Meme-Status hat, feiert der musikalische Freundeskreis das andere Amerika: Turnstile aus Baltimore. Im Underground gestartet, 2023 für den Grammy nominiert, ist die Band in diesem Sommer mit einem neuen Album zurück.
US-Hardcore als Breitwand-Rock inszeniert, lässt an allerbeste MTV-Zeiten mit »Beavis and Butt-Head« und »South Park« zurückdenken: damals, als man den McRib noch gegen den Big Mac verteidigt hat, und das lange bevor Markus Söder auf Tiktok seine erste Maß hob. Als der Geist des Vice-Magazins sich entfaltete zwischen Wasp-Metal und Sofapups. Mit dem Skateboard zu WOM oder Saturn, im Alternative-Fach stöbern. Und die neue Murphy’s Law kaufen.
Ja, warum soll man mit dem neuen Pulp- oder Stereolab-Album eigentlich nur den kultivierteren Teil der eigenen Biographie reanimieren? Warum nicht auch den Part mit dem Dosenbierstechen und der Mikrowellenkost? Turnstiles neue LP »Never Enough« weckt jedenfalls alte Erinnerungen.
Liepold verzichtet auf Pathos und moralischen Holzhammer. Stattdessen erzählt sie leise, intensiv, fast dokumentarisch – von einem Deutschland, das sich mit seinem »Untergrund« beschäftigen muss.
Um Erinnerungen ganz anderer Art geht es im Debütroman »Unter Grund« der Politikwissenschaftlerin Annegret Liepold. Er setzt im Jahr 2017 ein: Franka ist Lehramtsreferendarin in München und besucht mit ihrer Klasse den NSU-Prozess. Als ein Schüler Beate Zschäpe eine »Nazi-Schlampe« nennt, wird Franka von Erinnerungen an ihre unrühmliche Teenagerzeit übermannt und verlässt fluchtartig den Gerichtssaal. Sie beschließt, sich endlich ihrer rechtsextremen Vergangenheit zu stellen, und kehrt zurück in ihr fränkisches Heimatdorf, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Eindringlich erzählt Liepold vom rechten Rand in der Mitte der Gesellschaft. Etwas Geduld braucht man bei der Lektüre, der Roman legt Schicht für Schicht Frankas Biographie frei: das rechtsextreme Gedankengut, das unter der Oberfläche der Dorfgemeinschaft gärt, die braunen Schatten der Familienvergangenheit, das Wegsehen der Mutter und der Tante, als Franka begann, mit 16 Jahren inmitten des deutschen »Sommermärchens« 2006 in die rechtsextreme Szene abzurutschen.
Liepold verzichtet auf Pathos und moralischen Holzhammer. Stattdessen erzählt sie leise, intensiv, fast dokumentarisch – von einem Deutschland, das sich mit seinem »Untergrund« beschäftigen muss. Nicht nur im Osten, sondern auch in den westlichen Gefilden.
