19.06.2025
Das Musée du Quai Branly betreibt Provenienzforschung in eigener Sache

Ermittlungen im Fall »Dakar–Djibouti 1931«

Späte Korrekturen einer kolonialen Appropriation und die Schwierigkeiten der Wiedergutmachung: Eine Ausstellung in Paris widmet sich der umfassenden Afrika-Expedition, über die Michel Leiris in seinem klassischen Werk »Phantom Afrika« nachdachte.

Das Musée du quai Branly – Jacques Chirac am linken Seineufer ist eines der schönsten Museen in Paris. Nicht nur seines Gartens wegen. Rund 370.000 Objekte aus aller Welt, 141.000 allein aus Afrika, lagern dort. Besucher der Dauer- und Sonderausstellungen bekommen nur einen Bruchteil davon zu sehen, die zu den Sammlungen führende Rampe eröffnet den Blick auf volle Magazinregale. Auf dem Boden benennt die Lichtinstallation »The River« des kanadischen Künstlers Charles Sandison 16.000 Völkerschaften, deren Zeugnisse hier gezeigt werden.

Eine Treppe führt in die Sonderausstellung »Mission Dakar–Djibouti (1931–1933): Contre-enquêtes«. Sie präsentiert die unter der Leitung von Gaëlle Beaujean, Kuratorin der Afrika-Sammlungen des Museums, angestellten »Gegenermittlungen« zur französischen »Mission Dakar–Djibouti«, deren Teilnehmer Anfang der dreißiger Jahre in 14 afrikanischen Ländern Beute machten.

Der Transfer verdeutlicht exemplarisch den inneren Widerspruch des Fachs Ethnographie.

Das ist paradox: Unten die nach Paris geschafften Schätze, oben die Aufklärung über die Umstände ihrer Beschaffung. Die berühmte Expedi­tion führte eine elfköpfige Gruppe illustrer Ethnologen des Musée d’Ethnographie du Trocadéro (darunter mit Deborah Lifchitz eine einzige Frau) unter Leitung von Marcel ­Griaule mit einem immensen Tross über 20.000 Kilometer quer durch Afrika von Dakar nach Djibouti. Verlauf und Problematik der anderthalbjährigen Expedition sind schon oft dargelegt worden, angefangen mit dem 1.000seitigen Klassiker »Phantom Afrika« des Schriftstellers und Expeditionsteilnehmers Michel Leiris von 1934. Er hat früh dargelegt, dass die mit irrer Sammelwut, einem »Stachanow’schen« Arbeitseifer und einem großen Technikaufgebot zusammengetragenen Objekte – Masken und Statuen, Alltags- und Kultgegenstände – alles andere als freiwillig, oftmals nämlich per Erpressung, Diebstahl und Gewalt in französischen Besitz gekommen sind.

Wie in der »Exposition coloniale internationale«, die 1931 in Paris zur Zeit der Expedition stattfand, bestand auch an Ort und Stelle kein Zweifel, wer Herr und wer Knecht war, wobei zu den Herren auch einheimische Potentaten und Zuträger zählten. Reichlich überlieferte Foto- und Filmaufnahmen von der Expedition geben heute noch Anlass zur Fremd­scham. Die grellweiße Kolonialkluft der Expeditionsgruppe kontrastiert scharf mit der umstehenden Gruppe schwarzer Einheimischer, die zumeist keineswegs erfreut wirken, bei ihren Ritualen abgelichtet zu werden.

Entwendete Gegenstände, Objek­tifizierung der Eingeborenen

Die »Gegenermittler« (besser: Nachforscher) sind die damalige Route von 2021 bis 2024 nachgereist und haben den Skandal der Entwendung, in Kooperation mit dem Musée des civilisations noires in Dakar, an ­exemplarischen Objekten rekonstruiert. Ziel war es, die bislang ungehörten afrikanischen Stimmen wahrzunehmen, die kulturelle Appropriation deutlich und den Anteil der ­damaligen Partner an der Generierung ethnologischen Wissens erkennbar zu machen. Unmittelbare Zeitzeugen leben nicht mehr, deshalb bringt die Ausstellung Videointerviews mit Nachkommen über die Bedeutung der entwendeten Gegenstände und die generelle Objek­tifizierung der Eingeborenen, die eine Unmenge Fotografien hervorbrachte. Afrikanische Menschen, die 1931 zur Kolonialausstellung in Paris verschifft wurden, berichteten entsetzt davon, dass sie als exotische Wesen zur Schau gestellt und wie Tiere im Zoo betrachtet wurden.

Rekonstruiert wird auch die bereits von Leiris mit halbwegs schlechtem Gewissen kolportierte Entwendung eines Boli aus der vom Volk der Bambara bewohnten Ortschaft Diabougou im damaligen Südsudan (heute Mali). Boli heißt hier ein elefantenartiges Wesen aus Holz, überzogen von mit Bienenwachs vermischter Erde und geronnenem Blut. Es blieb vor den Augen der Nichtinitiierten und Frauen stets verborgen; eine Geheimgesellschaft (Kono) nutzte es für Initiationsriten, zur Förderung der Fruchtbarkeit der Menschen und des Bodens, zur Abwehr von Hexerei und zur Lösung von Konflikten, generell als Auffänger spiritueller und natürlicher Lebensenergie (Nyama).

Jäger und Sammler im Dienst der Forschung

Jäger und Sammler im Dienst der Forschung. Teilnehmer der Mission Dakar–Djibouti im Trocadéro-Museum für Ethnographie (v. l.): André Schaeffner, Jean Mouchet, Georges Henri Rivière, Michel Leiris, Baron Outomsky, Marcel Griaule, Éric Lutten, Jean Moufle, Gaston-Louis Roux und Marcel Larget (Mai 1931)

Bild:
mauritius images / Frederic Reglain  / Alamy

Was er beim Raub des als heilig geltenden Fetischs der Bambara empfand, schilderte Leiris so: »Mein Herz rast wie wild (…), ich nehme die Ungeheuerlichkeit dessen, was wir begehen, schärfer wahr.« Aber: »Man fühlt sich doch ganz schön selbst­sicher, wenn man weiß ist und ein Messer in der Hand hält.« Der Fetisch wanderte ins 1937 gegründete Musée de l’Homme, ein bedeutendes Zentrum der Ethnographie, das Forscher aus aller Welt anzog, von dort 2008 an seinen heutigen Standort am Quai Branly.

Große, kaum zu verwindende Schande

Was hat dieses Beuteobjekt in einem europäischen Museum verloren? Die Abbildung des Boli (das Leiris als Spanferkel titulierte) in der Zeitschrift Minotaure 1933, zugleich mit der opulenten Erstpräsentation anderer Expeditionsergebnisse im Trocadéro-Museum, machte Furore in surrealistischen Kreisen und unter Malern, sie sich damals gerne von »primitiven« Motiven inspirieren ließen. Während diese Aneignung die Phantasie westlicher Künstler und Intellektueller beflügelte, ergaben Recherchen in Diabougou im Jahr 2023, dass die Dorfgemeinschaft die Entwendung durch Weiße seinerzeit als große, kaum zu verwindende Schande empfand.

Der Transfer verdeutlicht exemplarisch den inneren Widerspruch des Fachs Ethnographie: Die Expedition wollte in den kolonialen »Mutterländern« eine unbekannte, von ihr bestaunte Welt präsentieren, die sie im kolonialen Modernisierungsprozess für unrettbar verloren erachtete. Dabei hat sie selbst an deren Untergang mit dem Raub von Identifikationsobjekten mitgewirkt, übrig geblieben sind vom örtlichen Kono-Heiligtums nur noch Ruinen. Moussa Daou, ein Nachkomme der Wächter des Kono, wägt die Schwierigkeiten einer simplen Restitution ab: Sich die nunmehr als entheiligt geltenden Objekte individuell anzueignen, sei unmöglich, sie in den Dörfern aufzubewahren und zu erhalten, schwierig, denn der überwiegend zum Islam übergetretenen Bevölkerung seien animistische Objekte völlig fremd. Der beste Weg wäre wohl, sie im Nationalmuseum in Bamako auszustellen.

Referenz der Moderne. Afrikanische Skulptur in der Ausstellung »Mission Dakar–Djibouti (1931–1933): Contre-enquêtes«

Referenz der Moderne. Afrikanische Skulptur in der Ausstellung »Mission Dakar–Djibouti (1931–1933): Contre-enquêtes«

Bild:
Alamy

Die Expedition war nicht nur an Kult- und Alltagsgegenständen wie Masken (vor allem der Dogon) und Kalebassen interessiert, sondern erkundete auch biologische, sprachkundliche und musikologische Themen. Dazu wurde beispielsweise der Kauf eines Balafons (einer west­afrikanischen Form des Xylophons) rekonstruiert, das eigens angefertigt wurde, weil die Malinké, die zur Feier des französischen National­feiertags am 14. Juli 1931 aufspielten, ihr Instrument nicht hergeben wollten.

Maurice Ravels »Bolero« begeisterte die Zuhörer 

Schön ist auch die Episode, dass der Musikwissenschaftler André Schaeffner im Oktober 1931 den Dogon Jazzklänge auf einem Phonographen vorspielte und eine Resonanz auf diesen »Afrika-Sound« erwartete. Die blieb aus, wohl aber begeisterte die Zuhörer Maurice Ravels »Bolero«.

Ein besonderer Akzent der Schau liegt auf den Ergebnissen der Gegenexpedition in Äthiopien. Die Ausstellung dokumentiert zudem viele weitere Fälle kolonialer Appropriation und fehlender Reziprozität, die Besuchern ethnographischer Sammlungen schon länger Unwohlsein bereitet. Aus der von einem instruktiven Katalog begleiteten Gegen-­Enquête kann man Schlüsse ziehen: Vor allem müssen die museale ­Anthropologie und die Ethnographie ihre »Forschungsobjekte« als Co-­Produzenten des Wissens einbeziehen; dazu gehört, Museumsbestände zu digitalisieren, um sie so in den Herkunftsterritorien verfügbar zu machen.

Die museale ­Anthropologie und die Ethnographie müssen ihre »Forschungsobjekte« als Co-­Produzenten des Wissens einbeziehen; dazu gehört, Museumsbestände zu digitalisieren, um sie so in den Herkunftsterritorien verfügbar zu machen.

Darüber geht der an der Columbia University lehrende Philosoph ­Souleymane Bachir Diagne hinaus. Er hält die von vielen Restitutions­forschern und -juristen vorgeschlagene Rückführung für unzureichend. Gewiss seien die geraubten und mit Zwang erworbenen Objekte im musealen (oder privaten) Exil aus ihrem Territorium und, wichtiger noch: ­ihrem kosmologischen Kontexts beraubt worden.

Doch in der neuen Umgebung haben sie sich angesiedelt, Kreativität entfacht und eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Weltkunst gespielt. Diagnes Vorschlag: »Deshalb sind sie dazu berufen, nomadisch zu sein und Verbindungen zwischen Museen zu knüpfen, auch wenn sie als Eigentumstitel zurückgegeben werden. Sie sollen restituiert, aber nicht re­territorialisiert werden.«

*

Mission Dakar–Djibouti (1931–1933): ­Contre-enquêtes. Musée du quai Branly – Jacques Chirac, Paris. Bis 14. September. Der Katalog ist bei Éditions El Viso, Madrid/ Paris erschienen und kostet 34 Euro.


Buchcover

Claus Leggewie ist Ludwig-Börne-Professor an der Universität Gießen. Seine Arbeiten zum »Globalen Süden« sind jüngst in dem Band »Abrechnung: Eine kritische Reflexion des Postkolonialismus« im Nomos-Verlag erschienen.