Auf den Fisch gekommen
Charlotte Brandi war immer gut beschäftigt: Mit der Dream-Pop-Band Me and My Drummer veröffentlichte die Sängerin, Komponistin und Theatermusikerin 2012 ihr erstes Studioalbum, es folgten Engagements an Theatern, Soloprojekte und die Zusammenarbeit mit Musikern wie Dirk von Lowtzow, der Hans-A-Plast-Sängerin Annette Benjamin, Drangsal oder Julian Knoth von Die Nerven. Brandis zweites – und erstes deutschsprachiges – Soloalbum »An den Alptraum«, 2023 erschienen, erzählt mit poppiger Schönheit Geschichten aus dem lauten Leben – und wartet schon mit dem kompromisslosen künstlerischen Selbstbewusstsein auf, das nun auch ihren Debütroman »Fischtage« trägt.
Dieser ist aus der Sicht der 16jährigen Ella erzählt, die in einer Künstlerfamilie in Dortmund aufwächst, obsessiv zeichnet und unter unerklärlichen Wutausbrüchen leidet. Mit jugendlicher Häme, dabei aber hingebungsvoll präzise seziert die Erzählerin ihre große Schwester (»die spinnt halt«), den dauerbekifften Schauspielervater (»Ein Schauspieler ist ein Mensch, der sich für die Aufmerksamkeit anderer seine Persönlichkeit abtrainiert«) und die Mutter, eine eitle Galeristin, die die Zeichnungen ihrer Tochter zum Beweis eines höheren Talents erklären will – eine Deutung, die in Ella vor allem abwehrende Impulse auslöst.
Der Roman ist ein Hohelied auf den Trotz und weckt die Sehnsucht nach der Pubertät als einer Zeit, in der man nicht nur falscher, sondern auch richtiger liegt als in jeder anderen.
Dass die wohlstandsverwahrlosten Eltern mit ihren drei Kindern in einem großen Haus mit noch größerem Garten wohnen und regelmäßig dekadente Drogenexzesse veranstalten, passt so genau ins Gesamtbild wie die Tatsache, dass die Mutter den Vater mit dem Dortmunder »Oberbonzen« betrügt und die Schwester auf ihrer Identitätssuche bei einem Mittelalter-Hippie namens Dän gelandet ist. Sich selbst beschreibt Ella als einen »Außenseiter«, der seine »Mitmenschen anschreien oder ihnen körperlich wehtun« will, weshalb sie Freundschaften misstrauisch gegenübersteht.
Als schließlich ihr kleiner Bruder Luis verschwindet und sich einmal mehr bestätigt, dass die anderen Familienmitglieder vor allem um sich selbst kreisen, beschließt Ella, die Dinge selbst zu regeln. Sie zieht in die Gartenlaube des Rentners Eckard, wo sie einen singenden Plastikfisch findet, der sich schnell als hilfreicher Gesprächspartner und Gefährte herausstellt. Ausgestattet mit dem Fisch und einer Aldi-Tüte beginnt sie ihre Suche nach dem Bruder.
Im Verlauf der folgenden Tage begegnet Ella allerlei Gestalten, die irgendwo zwischen Archetyp und Projektionsfläche angesiedelt sind: Da ist die unverwüstliche Werklehrerin und Thaiboxtrainerin Oksana, die Ella ungefragt aus mehreren Miseren rettet. Da ist deren grobschlächtiger Schüler Paul, der perfekte Autos aus Holz schnitzt. Da sind der Messerwerfer Hilmar, die lästige Konkurrentin Amelie und der Oberbonze, der bei näherer Betrachtung neurotisch und unbeholfen daherkommt.
Mehr als einmal wird Ella Gewalt angetan, die ihrer Entschlossenheit aber keinen Abbruch tut. Grundlose Schlägereien reihen sich an umständliche Ladendiebstähle, Gefahrensituationen, Verknalltheiten und Rückschläge. Die Beziehung zu ihrem Plastikfisch ist auf altbekannte Art von Momenten des Konflikts und der Annäherung geprägt.
Bewusste Großspurigkeit des Romans
Dass der Fisch das einzige offen phantastische Element des Romans bleibt, irritiert beim Lesen ebenso wie die leicht angestaubte Teenagersprache und die traumartigen Figurenkonstellationen und wird – wie diese – immer wieder von der bewussten Großspurigkeit des Romans eingeholt. Dabei stellt Brandi ein feines Gespür für Klischees unter Beweis: Zwar bewegen sich die Figuren oft an der Grenze zum Stereotyp, oszilliert die Handlung zwischen Melodrama und Klamauk, droht die Sprache immer wieder, ganz frivol ins Abgedroschene zu kippen.
Mit allen drei Grenzen spielt der Roman aber so selbstbewusst, dass er als humorvoller Kommentar auf Erzählgewohnheiten funktioniert. Die feine Lakonie von Sätzen wie »Blumenwiesen sind kein Normalzustand« führt einen Ton weiter, den Brandi schon in der choralen Stellungnahme »Der Ekel« anschlug, die ihr Album »An den Alptraum« eröffnet. Einen Ton, der sagt: Ich mach’ das jetzt so, was willst du tun.
Der Roman hat auch seine Längen, das Niveau des Humors kann nicht durchgehend gehalten werden und nicht jedes Handlungselement geht dramaturgisch komplett auf, aber das ist verzeihlich. Viel mehr als die Handlung oder die Figuren ist es Ellas Ton, der die besondere Magie der Welt von »Fischtage« erzeugt. Dass nämlich diese sich so pubertär an ihrer Wut festhält, die auch immer wieder aufbricht und etwas anderes, Traurigeres, Fragenderes durchscheinen lässt, verhüllt und zeigt geschickt das, was da passiert, und rührt zugleich an eigene Erinnerungen an pubertären Welthass und die Eitelkeiten der Adoleszenz.
Der Roman nimmt seine Erzählerin radikal ernst
Vor allem zu Beginn ihrer Reise projiziert Ella alles Negative auf die Eltern und das Positive auf den kleinen Bruder und den alten Herrn Eckard, was die Leserin nicht darüber hinwegtäuscht, dass schon der Detailreichtum ihrer Beschreibungen auch ein zärtliches Verhältnis zu ihrem gesamten Umfeld offenbart. Ellas Blick auf den verschollenen Bruder offenbart eine Trauer über einen Verlust, der Themen von Geschlechterdifferenz und Pubertät greifbar macht, ohne sie allzu offensichtlich anzusprechen.
Dass der Roman seine Erzählerin radikal ernst nimmt, anstatt sie schlicht als pubertär und unreif abzutun, gehört zu seinen großen Stärken. In ihren Einschätzungen mag Ella gelegentlich danebenliegen, einen reiferen Zugang zu ihren Gefühlen zu gewinnen, bleibt ihr als Aufgabe mitgegeben.
Ganz nebenbei untersucht der Roman die Kollision eines Mädchens mit den Anforderungen, die an es gerichtet werden, und dabei unaufdringlich Geschlechtervorstellungen befragt, ohne didaktisch zu werden.
Der Schmerz des pubertierenden Mädchens indes wird in »Fischtage« nicht paternalistisch als unwahr abgetan, sondern als erstaunlich wahrheitsnah und erkenntnisbringend begriffen. Darin erweist sich der Roman als Hohelied auf den Trotz und weckt die Sehnsucht nach der Pubertät als einer Zeit, in der man – sowohl in der Hingebung als auch im Zorn – nicht nur falscher, sondern auch richtiger liegt als in jeder anderen.
»Fischtage« ist ein gelungenes Debüt. Ganz nebenbei untersucht der Roman die Kollision eines Mädchens mit den Anforderungen, die an es gerichtet werden, und dabei unaufdringlich Geschlechtervorstellungen befragt, ohne didaktisch zu werden. Man kann das Buch als eine Erweiterung von Brandis musikalischem Œuvre lesen, großspurig, laut, mutig, betörend. Oder man liest es ganz für sich. Dann ist »Fischtage« ein herrlicher Abenteuerroman.
Charlotte Brandi: Fischtage. Ullstein-Verlag, Berlin 2025, 304 Seiten, 23 Euro