Plumpe Inszenierung
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann bekräftigte im Interview mit der Nachrichtenagentur DPA, wie ernst es ihm ist, die unter der Bezeichnung Bürgergeld gemilderten Regelungen für Leistungsbezieher:innen wieder zu verschärfen. Es gehe darum, »wirklich an die Substanz des Systems« zu gehen, so Linnemann. Konkret bedeutet das, dass Erwerbslose verstärkt kontrolliert und die Sanktionsmöglichkeiten, bis hin zur vollständigen Streichung der Grundsicherung, ausgebaut werden sollen.
Die Union macht sich nun also an die Realisierung dessen, was sie im Wahlkampf angekündigt und mit der SPD im Koalitionsvertrag vereinbart hat: Sie zerschlägt rücksichtslos die kümmerlichen Reste des Sozialstaats zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung.
Dass 800.000 Bürgergeldempfänger:innen sogenannte Aufstocker:innen sind, also zwar arbeiten, dabei aber so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Bürgergeld beantragen müssen, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle.
Bereits im Wahlkampf lieferten sich die Sozialdemokrat:innen mit der Union unter lauten Anfeuerungsrufen von Medien, Wirtschaftsinstituten und Arbeitgeberverbänden einen regelrechten Schäbigkeitswettbewerb bei der Diffamierung von Leistungsbezieher:innen. Im Mittelpunkt stand dabei der Kampf gegen »Arbeitsverweigerer«. Diese existieren bei näherem Hinsehen zwar nur als Zwangsvorstellung – die Bundesagentur für Arbeit zählte 2023 bei 5,5 Millionen Leistungsberechtigten gerade einmal rund 14.000 Fälle, in denen eine angebotene Arbeit abgelehnt wurde –, doch der Hass auf die Armen, bei gleichzeitiger Angst, bald selbst dazuzugehören, bringt seit jeher die deutsche Volksseele zum Kochen. Die Hetze gegen vermeintliche Totalverweigerer wurde zum Wahlkampfschlager.
Wer zum Mindestlohn schuften oder von einer Armutsrente leben muss, hat zwar nicht einen einzigen Euro mehr in der Tasche, wenn Bürgergeldempfänger:innen sanktioniert werden, weil sie einen Termin verpassen, doch dem vielbeschworenen »Gerechtigkeitsempfinden« ist Genüge getan. Dass gleichzeitig rund 800.000 Bürgergeldempfänger:innen sogenannte Aufstocker:innen sind, also zwar arbeiten, dabei aber so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Bürgergeld beantragen müssen, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung hingegen keine Rolle.
Umso überraschender ist, dass die SPD nun plötzlich ihr soziales Gewissen entdeckt haben will und sich als Verteidigerin des Sozialstaates inszeniert. Die Sozialsysteme im Land seien das solidarische Fundament des Zusammenhalts in der Gesellschaft, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Dagmar Schmidt, der DPA. »Die Attacken auf den Sozialstaat werden jeden Tag mehr. Dabei ist er kein Kostenfaktor, den man einfach nach Kassenlage zusammenstreicht«, kritisierte Schmidt die Ausführungen Linnemanns.
Klischee vom organisierten Sozialbetrug
Diese Einlassung erscheint wenig glaubwürdig, allzu viele Attacken der SPD auf Sozialleistungsberechtigte hatte es in den vergangenen Monaten (und im Wahlkampf ohnehin) gegeben. So bediente die sozialdemokratische Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas zur selben Zeit, als ihre Parteikollegin Dagmar Schmidt die SPD als Schutzmacht der Schwachen präsentierte, im Interview mit dem Stern das Klischee von »mafiösen Strukturen« aus Osteuropa, die organisierten Sozialbetrug betrieben.
Ende vergangenen Jahres revidierte die SPD-geführte Ampelkoalition die im Zuge der Einführung des Bürgergelds erfolgte Aufhübschung der Armutsgesetzgebung und kehrte zum unter dem Stichwort Hartz IV bekannten Sanktionssystem zurück. Wer eine zumutbare Arbeit ablehnt, dem kann seitdem das Bürgergeld für drei Monate komplett gestrichen werden. Selbst eine Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen in diesem Zeitraum ist nicht mehr vorgesehen.
Faktische Rückkehr zur Hartz-Gesetzgebung
Bei anderen »Pflichtverletzungen«, etwa dem Verpassen eines Termins beim Jobcenter, droht eine Kürzung von 30 Prozent für drei Monate schon beim ersten Regelverstoß. Leistungsbeziehende müssen Stellenangebote annehmen, auch wenn sie für den Arbeitsweg insgesamt drei Stunden benötigen. Zudem wurde die beim Bürgergeld bislang geltende Karenzzeit für Schonvermögen gestrichen, Leistungsbeziehende dürfen nicht mehr wie bisher im ersten Jahr des Bezugs 40.000 Euro behalten. Die prinzipielle Höhe des Schonvermögens von 15.000 Euro bleibt zunächst bestehen, die Union erwägt aber, diesen Betrag für jüngere Leistungsbezieher:innen zu senken.
Mit der faktischen Rückkehr zur Hartz-Gesetzgebung trugen die Sozialdemokraten mit der Unterschrift unter dem Koalitionsvertrag ihre »größte Sozialreform der vergangenen zwei Jahrzehnte« – so hatte die SPD die Einführung des Bürgergelds tituliert – endgültig zu Grabe. Dass ausgerechnet die SPD sich dem größten Angriff auf den Sozialstaat seit der rot-grünen »Agenda 2010« ernsthaft entgegenstellt, ist trotz aller salbungsvollen Worte nicht zu erwarten.