24.07.2025
Der Film »Vermiglio« über ein italienisches Dorf am Ende des Zweiten Weltkriegs

Auf den Winter folgt der Sommer

Ein Dorf in den italienischen Alpen am Ende des Zweiten Weltkriegs: Die Regisseurin Maura Delpero erzählt in »Vermiglio« von dem, was dem stumpfen deutschen Vernichtungswahn entgegenstand.

Mit dem ruhigen, sanften Atmen dreier schlafender Schwestern eröffnet Maura Delpero das von ihrer ­eigenen Familiengeschichte inspirierte Historiendrama »Vermiglio«. Die Mädchen teilen sich ein Bett in der rustikalen, dörflichen und etwas kargen Behausung der kinderreichen Familie des örtlichen Dorflehrers in den norditalienischen Bergen.

Mit präzisen, langen Detailaufnahmen führt die Kamera, für die Michail Kritschman verantwortlich zeichnet, in den Alltag der Familie ein. Eine Kuh wird gemolken, die warme Milch wird in die Becher der Familienmitglieder gegossen. Vor dem Panorama schneebedeckter Berge gehen die Kinder in die Schule, wo Familienvater und Lehrer Cesare (Tommaso Ragno) auch einige seiner eigenen Kinder unterrichtet.

Es sind die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und es herrscht eine gewisse Unklarheit darüber, ob die Deutschen noch in das Dorf kommen werden. Cesare ist trotz gelegentlicher Überflüge von Kriegsflugzeugen zuversichtlich, dass das nicht passieren wird – dennoch beschließt man, den sizilianischen ­Deserteur Pietro (Giuseppe De Domenico), der in dem Dorf Zuflucht sucht, der Vorsicht halber in der Scheune zu verstecken.

Die Enge der dörflichen Sittenordnung wird nicht plakativ angeklagt, sondern in ihren Auswirkungen auf das Innenleben der Einzelnen untersucht, die ihren je eigenen Umgang mit den begrenzten Möglichkeiten des Glücks finden.

Die älteste Tochter Cesares, Lucia (Martina Scrinzi), beginnt, sich dem schweigsamen, schönen Kriegsflüchtling vorsichtig anzunähern, obwohl einige Feldarbeiter und auch der eigene Bruder Dino (Patrick Gardner) dies missbilligen. Nach Stunden wortloser Nähe und unbeholfenen Liebesbriefen des sizilianischen Analphabeten, der in Cesares Samstagskurs für Erwachsene allmählich das Schreiben lernt, werden die beiden ein Paar. Als sie schließlich heiraten, ist Lucia bereits schwanger und entgeht so nur knapp einem Skandal wegen des vorehelichen Verkehrs.

Derweil plagt sich die mittlere Schwester Ada (Rachele Potrich) mit Schuldgefühlen ob ihres lesbischen Begehrens. In dem engen Haus, in dem bis auf Cesares Arbeitszimmer alle Räume gemeinschaftlich genutzt werden, ist ihr einziger Rückzugsort die Ecke hinter einem Schrank. Hier masturbiert sie heimlich, um sodann die begangene Sünde in ein eigens dafür vorgesehenes Buch einzutragen und sich selbst zu kasteien, indem sie ihr Gesicht in den Hühnerdreck des Stalls drückt, ihn sich nach vergeblichem Kampf gegen ihre Lust gar einverleibt.

In besagtem Arbeitszimmer findet sie in einer verschlossenen Schub­lade neben Cesares Zigaretten einen Band mit erotischen Frauenaktbildern, die ihre Begierde noch weiter beflügeln. Auf die Avancen der aufmüpfigen Virginia (Carlotta Gamba), die mit ihrer Homosexualität wesentlich offensiver umgeht, traut sie sich dennoch nicht einzugehen. ­Zudem muss sie sich damit abfinden, dass der jüngsten Schwester ­Flavia (Anna Thaler) das Privileg einer höheren Schulbildung vorbe­halten bleibt, während für Ada die Pflege- und Hausarbeit vorgesehen wird.

Verbotene Liebe im Schuppen: »Vermiglio«

Verbotene Liebe im Schuppen: »Vermiglio«

Bild:
Piffl Medien

Als wenig später, gefeiert durch das gemeinsame Hören einer eigens aus Mailand beschafften Schallplattenaufnahme des »Sommers« aus Antonio Vivaldis »Vier Jahreszeiten« in der Schule, der Frühling hereinbricht und der Krieg beendet wird, drängt die Familie Pietro, nach Si­zilien zu reisen, um seine Mutter wissen zu lassen, dass er lebt und es ihm gutgeht. Er will sich beeilen und rechtzeitig zur Geburt des Kindes zurück sein, doch als er lange Zeit nicht wiederkehrt und auch postalisch nichts von sich hören lässt, beginnt sich die Familie zu sorgen, dass Pietro seine Fahnenflucht doch noch zum Verhängnis geworden sein könnte. Oder steckt etwas anderes dahinter?

»Vermiglio«, benannt nach dem gleichnamigen Dorf des Geschehens, zeigt sich in so verträumten wie klaren Bildern, die zunächst im Winter kalt und blau, später warm und hell daherkommen und häufig wie Gemälde anmuten. Delpero nimmt sich in ihrer Regiearbeit die Zeit, tief in die Alltagsregungen der Familie einzutauchen, so dass sich zwischen Betrachter und Betrachteten allmählich eine intensive Vertrautheit einstellt. Da sind die intimen Minuten geschwisterlicher Nähe vor dem Einschlafen, in denen im Trentiner Dialekt über Wünsche und Sehnsüchte und die neuesten Entwicklungen in Lucias Liebschaft geflüstert wird, da sind das Glück neuen Lebens und die schreckliche Stille des Kindstods durch den grassierenden Keuchhusten – und da sind die verstohlen staunenden Blicke der Jün­geren auf die Geheimnisse des Lebens der Älteren.

Etwas von diesem kindlichen Blick findet sich in der sorgfältigen Herangehensweise des Films selbst wieder, wenn er gerade die leisesten Lebensäußerungen mit hoher Intensität zum Klingen bringt. Das gilt etwa, wenn der Zuschauer mit ­Cesare Aufnahmen von Chopins »Nocturnes« lauscht und plötzlich eine Ahnung davon bekommt, wie geradezu transzendent sie unter jenen Bedingungen geklungen haben mögen – als Bestandteil einer Sammlung von ­gerade einmal drei Schallplatten, auf einem Grammophon in der enthobenen Welt der Ostalpen, fern jeden Geräusches von Stadt und Technik. Und das gilt, wenn Feste, Feiern und Rituale den von Strenge, Genügsamkeit und Disziplin geprägten Alltag für ein paar Stunden in etwas anderes verkehren, das der Ausschweifung, dem Glück und der Leichtigkeit gewidmet ist.

»Vermiglio« berührt die großen Themen von unten

Und so berührt »Vermiglio« auch die großen Themen, um die der Film kreist, gleichsam von unten, in ihren konkreten Äußerungen. So werden in der Rolle Cesares nicht nur seine moralische Opposition zum Krieg als solchem und sein humaner Blick auf andere zu dem Privileg seiner Bildung und seiner Verschonung vor der Notwendigkeit unmittelbarer körperlicher Arbeit ins Verhältnis gesetzt, sondern auch die Grenzen seiner Güte gezeigt: wenn er etwa eifersüchtig strafend reagiert, als Dino der Mutter einen Blumenstrauß schenkt, um zur Geburt eines neuen Kindes zu gratulieren – oder wenn er über Anfang und Ende des Bildungswegs seiner Kinder richtet. Fern jeder Vereindeutigung wird an ihm die Ambivalenz eines bildungsbürgerlichen Anspruchs aufgezeigt, der nach Höherem strebt und immer wieder in Selbstbezüglichkeit zurückfällt – und nebenbei ein Bild des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Arbeit gezeichnet.

Auch die Enge der christlich dörflichen Sittenordnung wird nicht plakativ angeklagt, sondern in ihren Auswirkungen auf das Innenleben der Einzelnen untersucht, die ­ihren je eigenen Umgang mit den sehr begrenzten Möglichkeiten des Glücks finden. Wie auf den Winter der Sommer und auf den Krieg der Frieden folgt, finden auch die Einwohner Vermiglios nach jeder Dunkelheit wieder etwas Licht – wenn Ada auch ihr lesbisches Begehren nicht auszuleben wagt, gesteht sie sich doch schließlich das anfangs versagte Laster des heimlichen Rauchens zu.

So findet Delperos Film in aller Kargheit und Enge der Jahre des Mangels, des Kriegs und der Entsagung auch Äußerungen der Musik, des Wachsens, der Lust und der Liebe. In der gütigen Strenge Cesares, in der Vergebung auch für den Deserteur, im Interesse für das Anderssein der anderen zeigt »Vermiglio« so auf eindrückliche Weise ein italienisches Dorf, das alles war im Vergleich zu dem stumpfen deutschen Vernichtungswahn, der nicht weit entfernt sein Unwesen trieb.

Vermiglio (IT/FR/BEL 2024). Buch und ­Regie: Maura Delpero. Darsteller: Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico, Patrick Gardner, Martina Scrinzi, Rachele Potrich