Freier Verkehr ade
Eine Überraschung war es kaum, als Polens Ministerpräsident Donald Tusk Anfang Juli verkündete, dass Polen an der Grenze zur Bundesrepublik Grenzkontrollen einführen werde. Sehr deutlich hatte er in den zurückliegenden Monaten kritisiert, dass Deutschland die Grenzen kontrolliert und Flüchtlinge zurückweist – als einseitigen Akt, den Polen nicht akzeptieren könne.
Tusk versprach, bei den polnischen Kontrollen, die am 7. Juli begannen, jene »Aktivitäten, die für die Bevölkerung den Transport von Gütern und Produkten sowie den Tourismus behindern könnten«, auf ein »absolutes Minimum« zu beschränken. Dennoch waren die Befürchtungen groß, dass strikte Kontrollen den Handelsverkehr zwischen Deutschland und Polen beeinträchtigen könnten. Insbesondere auf der Autobahn zwischen Berlin und dem Grenzübergang bei Frankfurt (Oder) wurden Staus befürchtet.
Der ehemalige Bischof von Włocławek, Wiesław Mering, warnte in einer Predigt, dass in Warschau Leute regierten, »die sich selbst Deutsche nennen«.
Die Industrie- und Handelskammern Cottbus und Südbrandenburg forderten vor zwei Wochen in einem Brief an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) eine enge Abstimmung mit Polen bei den Grenzkontrollen. Durch Verzögerungen in Produktions- und Lieferketten befürchteten sie »massive negative wirtschaftliche Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Brandenburg«. Auch das große Tesla-Werk bei Berlin, das auf Beschäftigte und Zulieferer aus Polen angewiesen sei, könne beeinträchtigt werden, warnen die Verbände.
Doch offensichtlich will die polnische Regierung mit den Kontrollen den Grenzverkehr keineswegs zum Erliegen bringen. Nach Angaben des Sprechers der polnischen Grenzschutzbehörde wurden in der ersten Woche rund 67.000 Personen und mehr als 28.500 Fahrzeuge kontrolliert, nur 24 Personen sei die Einreise verweigert worden.
Matthias Schollmeyer, Geschäftsführer des Unternehmerverbandes Verkehr und Logistik Berlin und Brandenburg e.V., berichtete der Jungle World, ihm lägen im Zusammenhang mit den Grenzkontrollen nur wenige Rückmeldungen aus Mitgliedsunternehmen vor: »Die Lage ist also aktuell noch entspannt.«
Dennoch empfehle der Verband den Unternehmen, sich auf erhebliche Verzögerungen einzustellen. Sie sollten Zeitpuffer einplanen, sicherstellen, dass alle Fracht- und Transportdokumente vollständig vorliegen, alternative Routen erwägen und Liefer- und Kundenverträge auf Regelungen zu Verspätungen überprüfen.
Woidke und der Widerspruch
Von der Regierung fordert der Verband die Schaffung sogenannter green lanes. Solche LKW-Überholspuren an den Grenzübergängen gab es schon während der Covid-19-Pandemie auf deutscher wie auch auf polnischer Seite der Grenze. Dadurch war trotz der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie der freie Warenverkehr weiter möglich. Außerdem sollen Passierscheine für Berufspendler und bevorzugte Abfertigungsspuren für dringende Transporte dafür sorgen, dass das neue Grenzregime möglichst wenig wirtschaftliche Auswirkungen hat.
Mit diesen Forderungen rennen die Transportunternehmer bei Brandenburgs Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD) offene Türen ein. In einem Interview mit dem Handelsblatt Mitte vergangener Woche unterstützte er die von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) eingeführten Grenzkontrollen und kritisierte die »offensichtliche Naivität« der früheren deutschen »Politik der offenen Grenzen«. Gleichzeitig erklärte er, man müsse alles dafür tun, »die Auswirkungen auf die Grenzregionen, die Menschen vor Ort und die Wirtschaft so gering wie möglich zu halten«.
Auch forderte er, Kontrollen so einzurichten, dass der freie Verkehr von Waren und regulären Arbeitskräften nicht behindert werde, und verwies auf die während der Covid-19-Pandemie geltenden Regelungen: »Das hat damals gut funktioniert.« Woidke versucht so, sich aus einem Widerspruch herauszulavieren: Viele Wähler wünschen, dass die Grenzen für Flüchtlinge und Migranten geschlossen werden, doch die deutsche (Export-)Ökonomie ist auf den freien Verkehr von Waren und Arbeitskräften angewiesen.
Rechtsextreme Bürgerwehren
Simona Koß von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft verwies im Gespräch mit der Jungle World darauf, dass die Kontrollen nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das tägliche Zusammenleben in der Grenzregion beeinträchtigen. Viele Menschen seien verunsichert und würden durch lange Wartezeiten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Grenzübergreifende Zusammenarbeit, etwa von Schulen oder Sportvereinen, sei schwieriger geworden. Das beeinträchtige die »Normalität des Zusammenlebens« und belebe die »Vorbehalte beider Seiten wieder«.
Vor allem in Polen werden diese Vorbehalte gezielt angefacht, um innenpolitische Auseinandersetzungen zu provozieren. Die rechtsextremen Bürgerwehren, die seit einiger Zeit an der Grenze patrouillieren, um zu verhindern, dass Deutschland Flüchtlinge nach Polen zurückschiebt, lehnen nicht nur die Aufnahme von Migrant:innen in Polen ab. Sie unterstellen auch der derzeitigen polnischen Regierung, im Interesse Deutschlands zu handeln.
Diese Gruppen rekrutieren sich aus einem nationalistischen Milieu, das sich in den vergangenen 30 Jahren herausgebildet hat und dabei immer extremer wurde. Eine besondere Rolle spielte dabei der Radiosender Radio Maryja, der nicht nur katholische Gottesdienste überträgt, sondern insbesondere für ältere, religiöse Nationalist:innen als Informationsquelle und Vernetzungsplattform dient – durch Hörerkreise, Pilgerfahrten und dergleichen.
Konflikt mit der katholischen Kirche
In einer Predigt vor einer Hörergruppe von Radio Maryja auf einer Pilgerfahrt zum polnischen Nationalheiligtum, der Schwarzen Madonna von Częstochowa, warnte kürzlich der ehemalige Bischof von Włocławek, Wiesław Mering, dass die Grenzen Polens von Westen wie von Osten bedroht seien. Zudem regierten in Warschau Leute, »die sich selbst Deutsche nennen«.
Die Regierung unter Tusk ist offenbar nicht mehr bereit, Hetze dieser Art hinzunehmen. Anfang vergangener Woche beschwerte sich das Außenministerium in einem offiziellen Schreiben an den Vatikan über die Einmischung von religiösen Würdenträgern in das politische Tagesgeschäft. Deren Äußerungen untergrüben die deutsch-polnischen Beziehungen, verleumdeten die Regierung und stellten eine klare politische Unterstützung für nationalistische Kreise dar.
Dass die polnische Regierung so direkt den Konflikt mit der katholischen Kirche aufnimmt, die im Land immer noch eine bedeutende Rolle spielt, zeigt zwei Dinge. Zum einen stellt aus Sicht der Kreise um Tusk das Thema Migration und dessen Thematisierung durch die Rechte eine ernste Gefahr für den Fortbestand der breiten Regierungskoalition dar. Deren konservativere Parteien, die Polnische Volkspartei und die Partei Polen 2050, könnten durchaus die Koalition platzen lassen, wenn sie in Umfragen absteigen und sich für die in zwei Jahren anstehenden Parlamentswahlen schlechte Chancen ausrechnen.
Abtreibungsverbot und Missbrauchsskandale
Zum anderen aber ist der Einfluss der Kirche durchaus im Sinken begriffen. Insbesondere die Kernwählerschaft von Tusks liberaler Bürgerplattform und der mit ihr koalierenden kleineren linken und liberalen Parteien hat sich in den letzten Jahren deutlich von der Kirche entfernt. Die Auseinandersetzungen über das Abtreibungsverbot und Missbrauchsskandale in der Kirche haben dabei als Katalysator gewirkt.
Zudem herrscht auch im polnischen Klerus keine Einigkeit in Bezug auf das Verhältnis zu Deutschland. Der Erzbischof von Wrocław zum Beispiel warnte vor »wachsenden Spannungen in den polnisch-deutschen Beziehungen« und verwies auf die nach dem Zweiten Weltkrieg von polnischen Klerikern unternommenen Versöhnungsbemühungen.
Der Konflikt um das Thema Migration, den Tusk durch Einführung der Grenzkontrollen einhegen will, ist Ausdruck sich verschärfender sozialer Widersprüche innerhalb der polnischen Gesellschaft.
Dass die rechte Agitation gegen Deutschland so erfolgreich ist, ergibt sich nicht nur aus den Traumata des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr verfängt deren Instrumentalisierung bei dem Teil der polnischen Bevölkerung, der von der neoliberalen, durch die Einbindung in die EU – und damit in einen von Deutschland dominierten Wirtschaftsraum – ermöglichten Modernisierung der polnischen Ökonomie nicht profitiert hat.
Für diesen in Polen als »Polen B« bezeichneten Teil der Gesellschaft hat in den letzten 30 Jahren vor allem die Rechte politische Angebote formuliert und zum Teil auch etwas erreicht, etwa die Erhöhung des Kindergelds. Der Konflikt um das Thema Migration, den Tusk durch Einführung der Grenzkontrollen einhegen will, ist Ausdruck sich verschärfender sozialer Widersprüche innerhalb der polnischen Gesellschaft. In dieser Hinsicht sind sich die Gesellschaften auf beiden Seiten der Grenze an Oder und Neiße ähnlicher, als ihnen vielleicht bewusst ist.