Eine tote Sache
Ein geflügeltes Wort besagt, hierzulande lebten über 80 Millionen äußerst fachkundige Fußballbundestrainer. Extrem meinungsstark und selbstverständlich taktisch mit allen Wassern gewaschen, verfolgen die sonst an sportlichen Aktivitäten nicht wirklich interessierten Leichtmatrosen des nationalen Großkampfschiffs gebannt die Geschehnisse rund um die Nationalmannschaft. Sie studieren stundenlang die Aufstellungen, kritisieren wortreich selbst die Einstellung des Platzwarts und kommentieren jedes noch so kleine Zipperlein der angebeteten Nationalhelden.
Solch ein Gehabe stört zwar nur gelegentlich den öffentlichen Frieden, entkernt aber umso mehr die Leidenschaft für den Rasenballsport. Der filigranen Ballbehandlung auf dem Platz steht die grobschlächtige Rezeption des Publikums auf den Rängen gegenüber. Der Verdacht, dass es sich bei dem ganzen Spektakel um eine moderne Variante jener antiken Aufführungen handelt, die die zweite Hälfte des Schlagworts »Brot und Spiele« bilden, lässt sich nur schwer von der Hand weisen. Der Zustand der Welt findet auch hier seinen entsprechenden Ausdruck. So weit, so schlecht.
Der Inhalt ganzer Formate auf Youtube besteht daraus, dass selbsternannte Sportjournalisten ihrem sedierten Publikum umfangreiche Transfer-Shopping-Guides für ihre liebsten Fußballvereine darbieten. Die dabei präsentierten Einkaufslisten werden unter dem Aspekt der sportlichen Risikobewertung sowie einer potentiellen Weiterveräußerung mit finanziellem Gewinn zusammengestellt.
Die Kapriolen des Kapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten haben viele Veränderungen mit sich gebracht. Eine besonders auffällige ist die Wandlung fußballnationaler Bundesbürger zu profitorientierten Aktionären ihrer jeweiligen Lieblingsvereine. Wer als imaginierter Bundestrainer schon nervig daherkam, tritt nun als neunmalkluger Möchtegern-Vereinsmanager auf. Nachdem sich die allermeisten Profifußballvereine zu mittelständischen Unternehmen entwickelt haben, deren Geschäftsmodell die Heranzüchtung von ballaffinen Gladiatoren für die Schlacht in der Champions League zwischen den sieben bekanntesten europäischen Investorenclubs ist, satteln Kommentatoren und Fans einfach eiskalt um.
Spannung erzeugt im deutschen Fußball längst nicht mehr allein das Spielgeschehen. Angesichts der Tatsache, dass der Sieger von vornherein so gut wie feststeht, da die finanzielle Überlegenheit des Rekordmeisters aus München derart erdrückend ist, müssen die übrigen 17 deutschen Ausbildungsvereine nun auf andere Weise Aufmerksamkeit generieren. Als äußerst unterhaltend für das in den sozialen Medien anvisierte Klatschpappenpublikum hat sich dabei die Transferpolitik herausgestellt.
Der Inhalt ganzer Formate auf Youtube besteht daraus, dass selbsternannte Sportjournalisten ihrem sedierten Publikum umfangreiche Transfer-Shopping-Guides für ihre liebsten Fußballvereine darbieten. Die dabei präsentierten Einkaufslisten werden unter dem Aspekt der sportlichen Risikobewertung sowie einer potentiellen Weiterveräußerung mit finanziellem Gewinn zusammengestellt. Neu erworbene Spieler, so die Hoffnung der Schaulustigen, sollen dem fraglichen Verein »ein Vielfaches der Ablösesumme« in die Kasse dribbeln, wie es zum Beispiel der Hamburger Sportjournalist Florian Boldt auf X formuliert.
Calcio Berlin und Bohndesliga
Solche Kaderplanungen mit dem Sexappeal eines BWL-Studiums sollten eigentlich bei dem allerletzten Fan den Groschen fallen lassen, dass sich die schönste Nebensache der Welt zu einem kapitalgetriebenen Wirtschaftszweig entwickelt hat. Doch bekanntlich sieht man den Splitter im Auge des Gegenübers, aber nicht den Balken im eigenen. Die Inflation von Youtube-Kanälen wie Calcio Berlin oder Bohndesliga, welche als Drittverwerter dem Betrachter ein und dieselbe Ware andienen, ist unter anderem auf den Umstand zurückzuführen, dass der sportlich-faire Wettbewerb im Kapitalismus korrumpiert ist. Sie kreisen stundenlang wie Geier um einen längst verdorbenen Kadaver. Der einzige Mehrwert dabei: Spekulationen über Wechselgerüchte und die Marktwerte von Fußballspielern. Das bringt Quote.
Das Geplapper der Dampfplauderer ist dabei längst auch sprachlich im Neoliberalismus angelangt. Spieler, die »nicht mehr performen«, müssen dann im Sinne des Gesamtkonstrukts Profifußballverein umgehend von der »Payroll« gestrichen werden. In den Gesprächsrunden dieser wie aufgezogen wirkenden Sprechautomaten wird ungeniert von »Spielermaterial« gesprochen, obwohl diese Formulierung selbst im Sportjournalismus einst für umfangreiche Diskussionen sorgte, weil die semantische Nähe zu dem Wort »Menschenmaterial« hierzulande dann doch zu einigen Irritationen geführt hat.
Der Ausdruck war während des Nationalsozialismus für KZ-Häftlinge gebräuchlich; so wurden Personen, die für Arbeitseinsätze zu schwach waren, als »unbrauchbares Menschenmaterial« bezeichnet. Eine Jury der Sprachkritischen Aktion wählte im Jahr 2000 das Wort aufgrund der »unangemessenen Koppelung von Lebendig-Menschlichem und toter Sache« zum Unwort des 20. Jahrhunderts.
Im deutschen Feuilleton bemühte man sich, den Begriff »Spielermaterial« zu rehabilitieren.
Der Versuch des ZDF-Moderators Jochen Beyer im Sommer 2024, das Wort »Spielermaterial« aus der öffentlichen Debatte zu kegeln, scheiterte damals nicht nur an der Einfältigkeit deutscher Nationalspieler. Die verdinglichende Sprache der neoliberalen Manager wird auch bis weit in die Kreise von sich als progressiv verstehenden Youtubern verwendet. Widersprüche werden dort zumeist durch das routinierte Abspielen von Plattitüden abgewehrt. Dass in der Sprache des Fußballs auch viele militärische Metaphern verwendet werden, findet nicht einmal Erwähnung.
Auch im deutschen Feuilleton bemühte man sich, den Begriff »Spielermaterial« zu rehabilitieren. So behauptete der Spiegel-Autor und Kommunikationswissenschaftler Danial Montazeri, dass Sprache zwar einen »großen Einfluss auf die Realität« habe und deswegen »Debatten zum Beispiel über das Gendern wichtig« seien, im vorliegenden Fall gehe »es aber nicht darum, jungen Mädchen zu zeigen, dass auch sie höchste Ziele verfolgen können, sondern um Fußballstars«. Diese hätten aus Sicht des seit vergangenem Jahr in der Redaktion Verantwortlichen für die Berichterstattung über den FC Bayern München »natürlich auch Rechte, zählen aber wohl zu einer der privilegiertesten Gruppen, die man sich vorstellen kann«. Die meisten Fußballspieler würde es, so Montazeri weiter, kaum ernsthaft berühren, ob man »sie als Teil eines ›Spielermaterials‹ bezeichnet«.
Die Erkenntnis, dass Formulierungen die Denkweise und Wahrnehmung einer Gesellschaft beeinflussen, scheint für die Gladiatoren der Neuzeit nicht mehr zu gelten. Das Treiben auf dem Rasen kann mit einer den Menschen zum Material degradierenden Sprache öffentlich diskutiert werden – während man sich gleichzeitig darum bemüht, innerhalb der Gesellschaft gewaltfreie Kommunikation zu fördern. Dass der Profifußball nicht mehr lebendig, sondern längst eine tote Sache ist, führt direkt zur Quadratur des Kreises: einerseits progressives Gesellschaftsideal, andererseits entmenschlichende Ökonomisierung des Profisports.