No Future
Noch sind die Studenten nicht wieder in die Somerset Road gezogen. Dort, in Edgbaston, im Südwesten Birminghams, steht seit den späten fünfziger Jahren ein sogenanntes Hillel-Haus, ein jüdisches Studentenwohnheim. Es gilt als das größte im Vereinigten Königreich. Gerade ist allerdings nur ein Handwerker zugegen, der erste Vorbereitungen für den Bau eines 1,8 Meter hohen Zauns und zusätzlicher Sicherheitstore trifft.
Mehrere Kameras beobachten den Handwerker bei der Arbeit. Eine etwa drei Meter hohe Mauer schirmt den Außenbereich des Wohnheims ab. Schilder erinnern die Bewohner daran, stets die Türen hinter sich zu schließen. »Sie wissen, dass sie aufpassen müssen«, sagt der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses, Keith Rowe, der Jungle World. »Sie fühlen sich unwohl und sind verängstigt.« Deshalb werden die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt.
»Trotz des Hasses blüht das jüdische Studentenleben.« Louis Danker, Präsident der Union of Jewish Students
Im vergangenen Jahr entfalteten israelfeindliche Demonstranten an der Universität von Birmingham, die nur wenige Gehminuten vom Hillel-Haus entfernt liegt, ein Banner mit der Aufschrift »Zionists off our campus«. Dass damit im Zweifelsfall jüdische Studenten gemeint sein können, zeigt ein Vorfall in Leeds: Das dortige Hillel-Haus wurde im Februar in roter Farbe mit dem Schriftzug »Free Palestine« beschmiert. »Konflikte, die so viele Kilometer entfernt stattfinden, sollten keinen solchen Einfluss auf die britische Gesellschaft haben«, findet Rowe.
In den beiden akademischen Jahren 2022/2023 und 2023/2024 hat der Community Security Trust (CST) 325 antisemitische Vorfälle auf den Campus registriert. Das entspricht einem Anstieg um 117 Prozent im Vergleich zu den beiden Vorjahren. Im jüngsten Bericht, dem für das erste Halbjahr 2025, wird zwar ein leichter Rückgang verzeichnet, die Zahl bleibt jedoch doppelt so hoch wie im Vergleichszeitraum 2023 vor dem Israel-Gaza-Krieg. Der CST dokumentiert antisemitische Vorfälle, berät Betroffene und organisiert die Sicherheit britischer Juden.
Die Henry Jackson Society (HJS) sieht vor allem Handlungsbedarf beim Thema Desinformation und Medienkompetenz. In einer vor kurzem veröffentlichten Studie schreibt der Think Tank, antisemitische Desinformation könne in Vorlesungen »ungehindert gedeihen«. Viele Studenten wissen demnach nicht zwischen Fakten und Falschmeldungen zu unterscheiden. Bei einer Debatte im britischen Oberhaus im Mai nannten mehrere Mitglieder auch Dozenten als Teil des Problems. Lord Mitchell (Labour) mahnte die »Laissez-faire-Haltung der Fakultät«, derentwegen Antisemitismus ungehindert um sich greifen könne.
»Dozenten und ihre Gewerkschaft sind selbst Aggressoren«
»Die Dozenten und ihre Gewerkschaft, die eigentlich betroffene Studenten unterstützen sollten, sind selbst die Aggressoren«, so Baroness Deech (unabhängig). Und Lord Walney (unabhängig) nannte einen Professor an der Universität Leeds, der die lokale jüdische Gemeinde in den sozialen Medien als »virulent zionistisch« bezeichnete und meinte, dass es »auf dem Campus keinen Platz für Zionisten gibt.« Viele jüdische Studenten trauen sich auf dem Campus mittlerweile nicht mehr, sich als jüdisch zu erkennen zu geben.
Louis Danker spricht gegenüber der Jungle World von einer »Normalisierung antisemitischer Rhetorik auf dem Campus«. Als Präsident der Union of Jewish Students of the United Kingdom and Ireland (UJS) vertritt er über 10.000 jüdische Studenten. »Trotz des Hasses blüht das jüdische Studentenleben«, ergänzt er stolz und betont die Widerstandskraft jüdischer Studenten.
Das Problem beschränkt sich freilich nicht nur auf den Campus. Gerade im National Health Service (NHS), dem staatlichen britischen Gesundheitssystem, droht der Antisemitismus zu einer Epidemie zu werden. Wiederholt fiel eine leitende Kinderärztin eines Krankenhauses im Norden Londons mit Kommentaren in sozialen Medien auf. Mal behauptete sie dort eine jüdische Vorherrschaft, ein anderes Mal verharmloste sie die Hamas. Damit ist sie leider kein Einzelfall in der Ärzteschaft.
»Viele haben Angst«
Viele jüdische Mitarbeiter des NHS haben dem Board of Deputies of British Jews, der größten jüdischen Gemeindeorganisation Großbritanniens, zufolge das Gefühl, dass man sich nicht ausreichend um das Problem kümmert. Das habe auch Auswirkungen auf jüdische Patienten, von denen sich einige bei Behandlungen nicht mehr wohlfühlten. Die britische Kommission gegen Antisemitismus, ein Gremium, das dem Board of Deputies untersteht, betonte daher die Notwendigkeit umfassender Schulungen bei Angestellten des NHS.
»Viele haben Angst, sind wütend, und das seit zwei Jahren«, berichtet auch Oliver Marcus der Jungle World. Er ist Marketing Director des JW3, eines jüdischen Gemeindezentrums in der Finchley Road im Norden Londons. Seit dem 7. Oktober 2023 nehme er eine verstärkte Nachfrage am kulturellen Angebot des Zentrums wahr. Die Leute kämen zum einen, um sich in einer sicheren Umgebung austauschen zu können, zum anderen der Ablenkung wegen. »Vor allem Comedy-Shows und klassische Konzerte sind seitdem viel beliebter geworden.«
Für viele jüdische und israelische Künstler scheint das JW3 mittlerweile einer der wenigen Orte zu sein, an denen sie noch auftreten können. Marcus berichtet von einem israelischen Kindertheater, das ursprünglich eine landesweite Tournee geplant hätte, wegen Sicherheitsbedenken dann aber nur in der Finchley Road aufgetreten sei. Zwei jüdischen Comedians seien Auftritte in der schottischen Hauptstadt Edinburgh abgesagt worden. Auch ihnen habe das JW3 daraufhin einen Ersatz angeboten. Damit das so bleiben kann, musste allerdings die Sicherheit verstärkt werden – größtenteils selbstfinanziert.
Reale Bedrohung
»Die Bedrohung ist nicht abstrakt, sondern real und unmittelbar«, teilt ein Sprecher der Campaign Against Antisemitism (CAA) der Jungle World mit. »In der Praxis bedeutet dies, dass Synagogen mit Fäkalien beschmiert werden, ein jüdisches Kind mit einem Luftgewehr beschossen wird und eine jüdische Studentin aus Angst um ihre Sicherheit von einem Familienmitglied auf dem Campus begleitet werden muss.« Die Sicherheit der britischen Juden könne erst dann gewährleistet werden, wenn entschiedene Maßnahmen gegen Antisemitismus in all seinen Formen ergriffen werden.
Besonders viel Hoffnung darauf gibt es indes nicht. In einer Umfrage der CAA geben 84 Prozent der Befragten an, der Staat unternehme nicht genug; 62 Prozent gehen nicht davon aus, dass die Polizei Straftaten verfolge, wenn sie die melden, und auch auf dem Campus rechnen nur drei Prozent der jüdischen Studenten mit einer Reaktion der Universitätsleitung. Die Folge: Immer mehr britische Juden denken über Auswanderung nach.
Physisch sei es in Großbritannien zwar sicherer als in Israel, aber die Lebendigkeit der jüdischen Gemeinden gehe stark zurück, berichtete das Institute for Jewish Policy Research anlässlich einer Umfrage. Diejenigen, für die das jüdische Gemeindeleben wichtig sei, seien bereit, das Risiko einzugehen. Offiziellen Zahlen zufolge steht Großbritannien an vierter Stelle der Länder, aus denen die meisten Menschen nach Israel auswandern.