Strom als Politikum
Auch Großbritanniens Regierung, die seit einem Jahr von der Labour-Partei gestellt wird, sucht nach einem neuen kapitalistischen Wachstumsmodell und der Rolle des Staats darin. Nach Jahren der Sparpolitik unter dem konservativen Premierminister David Cameron (2010 bis 2016) kam der Ausstieg Großbritanniens aus der EU.
Die Befürworter versprachen, ohne die EU-Transferzahlungen werde wieder mehr Geld zur Verfügung stehen für das Sozial- und Gesundheitssystem und für dringend nötige Infrastrukturprojekte in den alten Industrieregionen. Für Letztere machte sich vor allem Boris Johnson, konservativer Premierminister von 2019 bis 2022, stark.
Die Strompreise in Großbritannien sind immer noch deutlich höher als vor 2020.
Wie Johnson betont auch der seit einem Jahr amtierende Labour-Premierminister Keir Starmer, dass die »Industriepolitik«, also die direkte Subvention wichtiger Branchen, eine zentrale Rolle spielen solle, doch viel Geld sei – anders als es die Befürworter des EU-Austritts erhofft hatten – dafür nicht da. Deshalb konzentriert sich die im Juni vorgestellte »Industriestrategie« auf acht Kernbranchen, darunter Rüstung, Pharmazie und Finanzen.
Ansonsten enthält die als Zehnjahresplan konzipierte Strategie »klar liberale Vorschläge«, die eher an Margaret Thatcher erinnerten, wie die Financial Times lobend anmerkte: »weniger Regulierung, weniger Planungsverzögerungen, mehr Wettbewerb und mehr private Investitionen zur Steigerung der Produktivität«. Diese stagniert in Großbritannien seit langem.
Ein Schwerpunkt ist der Energiesektor. Das 2019 noch unter der konservativen Premierministerin Theresa May (2016 bis 2019) in Kraft getretene Klimagesetz sieht vor, dass Großbritannien bis 2050 CO2-neutral wirtschaften soll. Die Elektrizitätsproduktion will Starmers Regierung bereits 2030 zu 95 Prozent ohne CO2-Emissionen hinbekommen.
Erneuerbare Energien deutlich günstiger
Dabei geht es dem Staat nicht nur um den Klimawandel, sondern auch darum, die Strompreise zu senken. Denn die sind in Großbritannien immer noch deutlich höher als vor 2020. Die britischen Strompreise werden durch die teuerste zur Deckung der Nachfrage benötigte Energiequelle bestimmt. Meist sind das Gaskraftwerke, denn der Preis von Erdgas ist seit der russischen Großinvasion der Ukraine dauerhaft gestiegen und treibt den Strompreis nach oben. Immerhin 30 Prozent des Stroms werden noch in Gaskraftwerken produziert.
Erneuerbare Energien sind deutlich günstiger, können den Strompreis aber nur senken, wenn sie die Verstromung von Gas verdrängen. Auch deswegen treibt die Labour-Regierung ihren Ausbau voran, vor allem den von sogenannten Windparks. Die Tories hatten sich in den Jahren zuvor wenig darum gekümmert. 2015 war der Ausbau von Offshore-Windparks mit Hilfe planungsrechtlicher Hürden sogar nahezu unmöglich gemacht worden.
Auch der Anteil des Atomstroms wird ausgebaut, mit großzügigen staatlichen Subventionen. Für den geplanten Bau eines neuen Atomkraftwerks in Sizewell an der Ostküste, wo bereits zwei Reaktoren stehen – einer, der kurz vor der Abschaltung steht, und einer, dessen Betrieb noch bis 2035 genehmigt ist – steuert der Staat über 14,2 Milliarden Pfund bei. Ohne diese Subventionen sowie weitere Risikoabsicherungen durch den Staat hätte sich der französische Staatskonzern EDF an dem neuen Projekt wohl nicht beteiligt.
14 Milliarden Pfund für ein neues AKW
Denn EDF baut bereits seit 2011 ein Atomkraftwerk im westenglischen Hinkley Point. Der Konzern erhielt Abnahme- und Preisgarantien für den später dort produzierten Strom, muss dafür aber die Baukosten selbst tragen. Das hat sich als schlechtes Geschäft erwiesen: Die Anlage sollte eigentlich dieses Jahr fertig werden, doch der Bau wird nach derzeitigem Stand doppelt so teuer wie ursprünglich geplant und noch mindestens zwei Jahre länger dauern.
Um die Klimaziele zu erreichen, hat die Labour-Regierung zudem Investitionen in die Kohlenstoffabscheidung angekündigt. In den nächsten 25 Jahren soll der Staat dafür 22 Milliarden Pfund ausgeben. Bei der Kohlenstoffabscheidung wird der Atmosphäre CO2 entzogen und dann unter der Erde gespeichert. Ob das in großem Stil überhaupt funktioniert und ob das Verfahren jemals wirtschaftlich sein wird, ist noch vollkommen offen.
Die rechtspopulistische Partei Reform UK, die sich in Umfragen großer Zustimmung erfreut, hat bis vor einem Jahr noch den menschengemachten Klimawandel geleugnet und fordert, die Klimaziele komplett aufzugeben.
Kritiker sehen in diesen Ankündigungen eher den Versuch, davon abzulenken, dass die Regierung ansonsten von Klimaschutzmaßnahmen abrückt. So wurden zum Beispiel eine Reihe von Flughafenerweiterungen genehmigt. Die Labour-Regierung hat das unterstützt, vor allem den Ausbau des großen Londoner Flughafens Heathrow.
Die rechtspopulistische Partei Reform UK, die sich in Umfragen derzeit großer Zustimmung erfreut, hat bis vor einem Jahr noch in offiziellen Erklärungen den menschengemachten Klimawandel geleugnet und fordert, die Klimaziele komplett aufzugeben. Die Partei erhält der New York Times zufolge besonders viele Spenden von Investoren aus dem Bereich fossiler Energien.
In Umfragen liegt Reform UK vor den Tories, was diese unter Druck setzt. Die konservative Oppositionsführerin Kemi Badenoch hat mehrfach angekündigt, dass ihre Partei das unter Theresa May 2019 verabschiedete Klimagesetz kassieren werde, sollte sie wieder an die Macht kommen.