Erdoğans autoritäre Strategie
Die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), mit 102 Jahren die älteste politische Partei der Türkei, steht unter hohem Druck. Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt Justiz, Verwaltung und Medien gezielt ein, um die CHP, die stärkste Oppositionskraft des Landes, zu zersetzen und in eine kontrollierte Scheinopposition nach Putin’scher Machart zu verwandeln.
Erdoğans Ziel ist es, seine Macht weit über den nächsten Wahltermin 2028 hinaus zu sichern, gestützt auf das ultranationalistische Bündnis seiner Partei, der AKP, mit der rechtsextremen MHP von Devlet Bahçeli. Von außen wirken die Parteitage der CHP wie Machtdemonstrationen, an sich sind sie Verteidigungsakte.
»Nein zu Putsch und Zwangsverwaltern«
Am 21. September versammelte sich die Partei zu ihrem 22. außerordentlichen Parteitag im Nazım-Hikmet-Kulturzentrum in Ankara. Unter dem Motto »Nein zu Putsch und Zwangsverwaltern« bestätigten 835 von 917 Delegierten Özgür Özel als Parteivorsitzenden. Die deutliche Mehrheit sollte Geschlossenheit demonstrieren und Özel den Rücken im juristischen und politischen Kampf gegen Erdoğan stärken. Gleichzeitig offenbart sie die wachsende Sorge der Partei vor einem institutionellen Angriff des AKP-MHP-Regimes.
Gegründet 1923 von Mustafa Kemal Atatürk, regierte die CHP die Republik Türkei von ihrer Gründung im selben Jahr bis 1946 in autoritärer Einparteienherrschaft. Sie setzte im Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs zentrale Neuerungen durch, darunter Laizismus sowie die Modernisierung von Recht, Bildung und Verwaltung, doch diese Reformen gingen einher mit Gewalt und repressiven Assimilationskampagnen gegen Kurden, Aleviten und Nichtmuslime, mit Repression gegen Gewerkschaften und Linke sowie dem Dersim-Massaker von 1937/1938.
Seit den Kommunalwahlen 2024 ist die CHP die dominierende Kraft in den urbanen Zentren. Für Erdoğan bedeutet das eine existentielle Bedrohung seiner Macht.
Bis heute fällt es der Partei schwer, dieses Erbe kritisch aufzuarbeiten. Stattdessen klammert sie sich an ein idealisiertes Bild des Kemalismus und Parolen wie »Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals«, was ihre Glaubwürdigkeit als moderne demokratische Alternative untergräbt. Gerade diese unkritische Fixierung auf das kemalistische Erbe schwächt die CHP in ihrer derzeitigen Rolle als stärkste Oppositionspartei. Während sie einerseits versucht, Erdoğan Paroli zu bieten, trägt sie andererseits selbst autoritäre Altlasten mit sich, die ihre Bündnisfähigkeit insbesondere für Kurden und Linke in Frage stellen.
Seit den Kommunalwahlen 2024 ist die CHP die dominierende Kraft in den urbanen Zentren. Landesweit erzielte sie 37,7 Prozent der Stimmen, die AKP kam auf 35,5 Prozent. Die CHP gewann 35 von 81 Provinzhauptstädten, die AKP nur 24. Erstmals seit ihrer Regierungsübernahme 2002 ging die AKP aus Kommunalwahlen nicht als die im landesweiten Durchschnitt stärkste Partei hervor.
In Istanbul wurde Ekrem İmamoğlu mit 48,8 Prozent der Stimmen Oberbürgermeister, in Ankara gewann Mansur Yavaş mit 50,7 Prozent. Die CHP gewann somit die Kontrolle über die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Zentren des Landes. Für Erdoğan bedeutet das eine existentielle Bedrohung seiner Macht. Es wird bereits über vorgezogene Neuwahlen spekuliert, um der Opposition nicht die Zeit zu lassen, landesweit Mehrheiten zu konsolidieren.
Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister Istanbuls, gilt als einziger aussichtsreicher Herausforderer Erdoğans
Im Zentrum des politischen Angriffs steht Ekrem İmamoğlu, der populäre Bürgermeister Istanbuls. Er gilt als einziger aussichtsreicher Herausforderer Erdoğans, populär auch bei konservativen Wählern. Am 19. März wurde İmamoğlu unter Terror- und Korruptionsvorwürfen verhaftet, obwohl Beweise fehlen. Zuvor hatte der Hochschulrat YÖK ihm seinen Universitätsabschluss aberkannt, der für eine Präsidentschaftskandidatur erforderlich ist. Die Doppelstrategie aus juristischer Disqualifikation und medialer Diffamierung folgt dem Muster autoritärer Systeme: Der gefährlichste Gegner wird systematisch ausgeschaltet.
Doch Erdoğans Strategie beschränkt sich nicht auf einzelne Personen. Die CHP soll institutionell geschwächt werden. Wegen des Parteitags von 2023, auf dem Özgür Özel den bei der Präsidentschaftswahl gegen Erdoğan erfolglosen Kemal Kılıçdaroğlu ablöste, läuft eine Klage wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten. Sollte das Gericht den Parteitag annullieren, würde Kılıçdaroğlu ohne Neuwahl wieder Parteivorsitzender. Eine Entscheidung wird für den 24. Oktober erwartet. Damit fungiert der frühere Parteivorsitzende faktisch als Werkzeug einer autoritären Zersetzungsstrategie. Der jüngste außerordentliche Parteitag sollte Özel eine vom Prozess unabhängige Legitimation verschaffen, doch ist fraglich, ob sich die CHP damit im Ernstfall vor der weitgehend regierungstreuen Justiz durchsetzen könnte.
Auch auf regionaler Ebene greift der Staat ein. In Istanbul wurde der CHP-Regionalvorsitzende ohne stichhaltige Begründung abgesetzt und kommissarisch durch Gürsel Tekin ersetzt, einen ehemaligen CHP-Politiker, der sich immer mehr von Erdoğan instrumentalisieren lässt. Kritiker sehen darin den Versuch, Einfluss auf die CHP zu gewinnen und sie innerparteilich zu schwächen. Dieses Vorgehen erinnert an die Entmachtung demokratisch gewählter Bürgermeister in kurdischen Kommunen und verdeutlicht die systematische Strategie der AKP-MHP-Regierung, die Opposition institutionell auszuhöhlen.
Ziel der AKP-MHP-Regierung ist ein autoritäres Präsidialsystem, gestützt auf Nationalismus und Islam
Parallel treibt die Regierungskoalition die neoosmanische Vision nach dem Misâk-ı Millî, dem osmanischen Nationaleid, voran. Ziel ist ein autoritäres Präsidialsystem, gestützt auf Nationalismus und Islam. Die prokurdische Dem-Partei ist unterdessen in innere Konflikte verstrickt. Abdullah Öcalan, seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı inhaftiert, bleibt für Teile der kurdischen Bewegung ein wichtiger Bezugspunkt. Sein Aufruf, die PKK zu entwaffnen und ihre Kader in den türkischen Staat zu reintegrieren, erfolgt einseitig und ohne politische Verhandlungen über eine umfassende Lösung der Kurdenfrage. Diese Strategie bindet Kräfte der kurdischen Opposition und erleichtert Erdoğan und Bahçeli, ihre neoosmanische Agenda durchzusetzen, ohne dass ein wirklicher Friedensprozess entsteht.
Das Vorgehen gegen die CHP ist strategisch motiviert: Erdoğan duldet keine echte Opposition. Formal bleibt die Partei bestehen, doch ihre Handlungsfähigkeit soll stark eingeschränkt werden. Verfahren, Dekrete, Gerichtsurteile und administrative Eingriffe sollen die CHP zu einer ungefährlichen Scheinopposition zurechtstutzen. Um dieser Strategie entgegenzuwirken, braucht die Partei weniger Atatürk-Folklore als vielmehr die Fähigkeit, eine glaubwürdige demokratische Alternative anzubieten, die alle gesellschaftlichen Gruppen anspricht, einschließlich der Kurden, Aleviten und Linken. Nur dann kann sie mehr sein als der nostalgische Erbwalter des ehemaligen Verwaltungsapparats der Republik und den Anspruch einlösen, die Opposition gegen Erdoğan anzuführen.