02.10.2025
Die Taliban schalten das Internet in Afghanistan ab

Tugendterror gegen Frauen

Die Taliban haben das Internet in ganz Afghanistan abgeschaltet. Was offiziell als »Schutz der Moral« bezeich­net wird, ist faktisch ein planvoller Angriff auf die Reste weiblicher Auto­no­mie und geistiger Selbstbestimmung.

Die Leitung ist tot. Nicht metaphorisch, sondern ganz praktisch: kein W-Lan mehr, kein Unterricht, kein Zugang zur Außenwelt. In ganz Afghanistan ist das Internet abgeschaltet. Wo sich in anderen Teilen der Welt die digitale Kluft durch Infrastrukturprobleme vertieft, wird sie in Afghanistan planvoll zementiert – mit Ansage, mit Ideologie, mit Gottes ­Segen.

»Diese Online-Kurse waren meine ein­zige Hoffnung«, sagt eine 17jährige Afghanin dem Guardian. Ihre Stimme krächzt durch ein Mobiltelefon, das bald genauso schweigen könnte wie ihr Laptop. Das Glasfasernetz ist tot, auf Befehl der Taliban-Führung. Der offizielle Grund: »Verhinderung von Unmoral«. Was genau unmoralisch ist, bestimmen jene Männer, die sich mit dem Koran in der Hand zu Tugendwächtern aufschwingen und den Zugang zur Welt sperren.

Der 15. September markiert eine weitere Stufe im systematischen Abbau jeglicher Möglichkeit weiblicher Existenz. Nicht metaphorisch, sondern ganz praktisch. Denn mit dem Internet verlieren Afghanistans Mädchen nicht nur die Möglichkeit zu lernen. Sie verlieren die Möglichkeit, überhaupt noch in Austausch zu treten – mit der Welt, mit Ideen, miteinander.

Was genau unmoralisch ist, bestimmen jene Männer, die sich mit dem Koran in der Hand zu Tugendwächtern aufschwingen und den Zugang zur Welt sperren.

Schon zuvor war Bildung ein gefährdetes Gut. Seit der Machtübernahme 2021 haben die Taliban weiterführende Schulen für Mädchen verboten. Universitäten wurden geschlossen, Curricula zensiert, Lehrkräfte verbannt. Das Internet bot die letzte Lücke in der Mauer. Eine Lücke, durch die Licht eindringen konnte, in Form von Zoom-Calls, Google-Classrooms, Moodle-Foren. In Form von Gegenwart. Nun ist auch diese Lücke geschlossen.

Wer glaubt, dies sei ein Randthema, ein spezifisches Problem einer iso­lierten Gesellschaft, sei daran erinnert: Bildungsfreiheit ist kein kulturelles Extra, sondern das Fundament ­jeder politischen Mündigkeit. Nun verschwinden auch Bücher, geschrieben von Frauen, aus den Universitätsbibliotheken – dar­unter auch derart unanstößige Werke wie »Sicherheit im Chemielabor«. Das ist nur konsequent in der Logik eines politischen Systems, das keine weibliche Autonomie duldet, selbst dann nicht, wenn sie sich nur in Sicherheitsempfehlungen ausdrückt.

Der Taliban-Staat verfolgt ein extrem rückschrittliches pädagogisches Projekt. Während Jungen in Koranschulen Verse auswendig lernen, soll Mädchen grundsätzlich das Denken abgewöhnt werden. Offiziell geschieht das aus »Sorge um ihre Moral«. De facto ist es eine Machtdemonstration: Wer nicht wissen darf, was er ist, wird nicht wissen, was er sein könnte. Was sich hier vollzieht, ist keine Bildungsreform. Es ist die Reinstallation des Unwissens als Prinzip – politisch gewollt, religiös verbrämt, staatlich organisiert.

Kollektive Enteignung

»Wenn das so weitergeht, verliere ich alles«, sagt eine andere 17jährige, die Programmieren lernen wollte. Der Satz steht nicht für ein individuelles Scheitern, sondern für eine kollektive Enteignung. Denn was sich in Takhar oder Baghlan abspielt, ist kein technischer Rückfall. Es ist der Versuch, Modernität selektiv zu zerstören: Frauen raus aus der Cloud, zurück unter die Burka.

Ein Großteil der politisch einflussreichen Staaten schweigt dazu – oder hält anderes, etwa Abschiebungen nach Afghanistan, für wichtiger. Wer heutzutage über Afghanistans Frauen spricht, riskiert, als westlicher Moralimperialist belächelt zu werden. Als hätte das Recht auf Bildung keine universelle Gültigkeit, solange es nicht mit Exportinteressen verbunden ist.

Krieg gegen das Wissen

Die Taliban führen einen Krieg gegen das Wissen – und sie gewinnen. Nicht weil sie stärker wären. Sondern weil kaum jemand widerspricht.

Was bleibt, ist das stille Drama des digitalen Verstummens. Die »Online Women’s University«, mit 17.000 Studentinnen einst ein Leuchtturm in der Dunkelheit, droht nun selbst im Schatten zu verschwinden. Lehrvideos können nicht mehr abgerufen werden, PDFs bleiben im Datenstau stecken. Und Mädchen müssen sich aus dem 21. Jahrhundert verabschieden, weil die Internetleitung abgeschaltet wurde.

Es ist kein symbolischer Verlust. Es ist ein realer Angriff auf Frauen, auf Wissen. Was ist unmoralisch – ein Online-Kurs in englischer Grammatik oder die planvolle Zerstörung weiblicher Zukunftsperspektiven? Vernehmliches Schweigen beantwortet weltweit diese Frage.­