Auszug aus dem Roman »Der Junge aus Ilocos«
I. Der Junge, der nachts Drachen steigen ließ
Victor kannte das Spiel aus der Schule. Die Mädchen sprangen über ein aufgespanntes Gummiband, wodurch ihre Röcke so weit nach oben flogen, dass ihre Oberschenkel und Unterwäsche zu sehen waren. Die Jungs aus den höheren Klassenstufen drängten sich um sie herum, um die schwerkrafttrotzenden Sprünge jedes einzelnen Mädchens mit begierigen Blicken zu verfolgen. Er selbst stand zwischen ihnen und beobachtete die Bewegungen der Mädchen, als handle es sich um ein wissenschaftliches Experiment.
Eines Nachmittags spielte Victor, von der Sonne gebräunt, das Gummihüpfspiel mit seinem Bruder und seinen Cousinen, als ein Transporter die Straße entlangraste und dabei jedes Blatt und jeden Grashalm mit feinem Staub bedeckte. Der Transporter hielt vorm Haus der Nachbarn, und eine Frau Mitte vierzig stieg aus. Ihr folgte ein Junge, um die zehn wie Victor, und streckte sich. Er musterte zuerst die Mädchen und dann Victor, der seinen Blick starr und stumm erwiderte. Der Junge war hoch aufgeschossen, und seine Haut war weiß wie Milch.
Nach einigen Augenblicken legte Victor sich auf sein Bett und dachte über den Jungen nach. Wie heißt er, wo kommt er her, wer ist die Frau, wie lange werden sie hierbleiben?
Vom Drang erfasst, den Neuankömmling zu beeindrucken, wies Victor seine Spielgefährten an, das Gummiband höher zu spannen. Er rollte die Aufschläge seiner kurzen Hose bis zu den Oberschenkeln hoch und rannte auf das Gummi zu. Er hob beide Arme und machte einen Handstand, wobei er das Gummiband mit den Zehenspitzen streifte, und landete anschließend auf den Füßen. Ein perfekter Salto! Während er sich den Schmutz von den Händen wischte, warf er einen Blick über die Schulter, aber der Junge war bereits ins Haus gegangen.
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