02.10.2025
Wiedervereinigung? »It sucks«

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Artige Zeiten

Im Spätsommer 1990 beginne ich mit einer Serie von autobiographischen Comicseiten, die ich im Juni 1991 zu meinem ersten selbstverlegten Heft zusammenfasse. Ich nenne es »Artige Zeiten«, weil für mich die Hardcore-Zeiten der achtziger Jahre beendet sind. Seltsamerweise findet das bedeutende Ereignis der deutschen Wiederver­einigung in meinem Leben nur am Rande statt. In Berlin ist die Maueröffnung unmittelbar, von Hamburg aus jedoch nur entfernt spürbar.

Für mich hätte sie auch in Bulgarien stattfinden können. Dennoch zeichne ich schon auf Seite zwei des Hefts meinen Freund Alain und mich am 3. Oktober. Wir haben beide lange Haare und sprühen »Die Mauer war geil« auf eine Wand in Altona. Aus Provokation. Weil wir den Ausverkauf der DDR und den ­Nationalismus ablehnen.

Seltsamerweise findet das bedeutende Ereignis der deutschen Wiederver­einigung in meinem Leben nur am Rande statt. In Berlin ist die Maueröffnung unmittelbar, von Hamburg aus jedoch nur entfernt spürbar.

Aber ehrlicherweise auch, weil die Wiederver­einigung für uns bedeutungslos ist. Auf einer Reise nach Paris werden Alain und ich auf der Straße von einer tourenden US-amerikanischen Band angesprochen. Weil wir aussehen wie langhaarige Checker. Wir steigen in den Bandbus ein und führen sie zum Konzertort. Im Bus fragt mich einer der Musiker: »What do you think about the reunification?« Ich: »It sucks.«

Regelmäßig verkleinere ich in den folgenden Monaten frisch gezeichnete Comicseiten in einem Copyshop in Altona, um zu sehen, wie sie sich lesen. Danach gehe ich in den Schallplattenladen »Zardoz« und zeige sie Daniel Richter, der dort arbeitet. Er liest meine Comics immer wohlwollend, ermuntert mich und macht gelegentlich kritische Anmerkungen.

Ich bedanke mich später im Vorwort bei ihm für artistic guidance. Meine Freundin ­Minou und ich sind damals ständig zusammen und wieder getrennt. Eine Seite von ihr ist auch in »Artige Zeiten« enthalten. Ein feministischer Rache-Comic. Daniels Plakat »Schnauze Deutschland« hängt jahrelang bei Minou an der Wand.

Anfang der Neunziger ist plötzlich viel los auf St. Pauli, zwischen »Pudel«, »Soul Kitchen« und »Mojo Club«. Das wegweisende Hamburger Punk-Label Buback veröffentlicht HipHop, Experimentelles und Kunst. Manche Punks gehen plötzlich tanzen.

Die meisten Punks bleiben trotzdem lieber im »Störtebeker« in der Hafenstraße, die Studenten lieber im »Pudel«. Rund um den »Pudel« entsteht ein Milieu, aus dem dann die antifaschistische ­Initiative »Wohlfahrtsausschuss« hervorgeht.

Auch wenn die deutsche Wiedervereinigung nicht direkt in das Heft hineingeschrieben ist, so beginnt 1990 auch für mich mit einer Befreiung. Ich löse mich aus dem zu eng ge­wordenen Korsett der Punkszene, versuche nicht mehr, einem ein­heitlichen Stil zu folgen, und zeichne ohne Vorzeichnung Selbsterlebtes von Konzerten, Schlägereien und Liebschaften. Ein neues Jahrzehnt beginnt. Es ist bunt.