Großdeutsches Jubiläum: Frieden mit Deutschland? Ist Deutschland normal geworden?
Für eine kosmopolitische Antiheimat
Schon sind die Sommerferien vorbei, leider. Denn jedes Mal, wenn ich nach Deutschland zurückkomme, stellt sich schnell ein bestimmtes Deutschlandgefühl wieder ein, das ich nicht vermisst habe.
Ich frage mich, was es genau ist. Vielleicht begegnete ich ihm an der Ostsee, als ich mit meinem Sohn durch einen schmalen Küstenwald zum Strand gehen wollte und gleich die ersten Belehr-Schilder aufragten: »Aktiv-Wald – hier können Sie sich sportlich an unseren Geräten ertüchtigen.« Auf der anderen Seite des Wegs teilte einem ein ähnliches Schild mit, dass man es mit einem »Entspannungswald« zu tun habe. Im Hintergrund drohten Bänke die gerade auf die Beine gekommenen Berliner Langschläfer-Spaziergänger schon wieder zur Entspannung zu zwingen. So weit, so nicht gut.
Eine Großdemonstration mit der Parole »Nie wieder Deutschland« wie 1990 wäre heute nicht mehr vorstellbar. Parteien und Institutionen überbieten sich derzeit mit positiven Deutschland-Evokationen.
Anderes wiederum hat sich in den vergangenen 35 Jahren sehr geändert: Eine Großdemonstration mit der Parole »Nie wieder Deutschland« wie 1990 wäre heute nicht mehr vorstellbar. Parteien und Institutionen überbieten sich derzeit mit positiven Deutschland-Evokationen. Auch die Grünen haben schon eingeladen zu kulturpolitischen Abenden, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie man sich den Begriff Heimat zu eigen machen kann. Es ist die gleiche Logik wie bei der Migration: Man sattelt auf AfD-Themen auf, um sie »nicht den Rechten zu überlassen«. Man gestaltet die Themen aber nicht anders und neu, nur in der Dosis weniger toxisch. Zum Beispiel könnte man, statt den Heimatbegriff »von links« okkupieren zu wollen, sagen: Wir treten ein für einen transnationalen, kosmopolitischen Antiheimatsbegriff. Aber man traut sich nicht, eine wirklich andere Sichtweise zu etablieren. Man bedient sich bei der AfD, um den Themen dann ein farblich anders akzentuiertes (grün, rot, lila, schwarz, gelb …) Profil zu geben. Kein Wunder, dass die AfD überall zulegt. Beliebt ist auch das Spiel, Missstände und Mängel in Deutschland mit Verweis auf andere Länder kleinzureden (bei der Carola-Brücke in Dresden ist ja niemand zu Schaden gekommen, bei der Brücke in Genua hingegen …).
Fundamentale Deutschlandkritik ist nicht mehr en vogue. Der Gedanke daran, dass vor 35 Jahren eine Großdemo unter dem Motto »Nie wieder Deutschland« loszog, stimmt heute nostalgisch.
Tanja Dückers
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Schlussstrich und Zweifrontenkrieg
In einer Umfrage der Zeit stimmten 55 Prozent der Befragten der Aussage zu, die Deutschen sollten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Auf die Frage: »Halten Sie das militärische Vorgehen Israels in Gaza für gerechtfertigt?« antworteten 75 Prozent mit nein. Gleichzeitig waren 67 Prozent für Waffenlieferungen an die Ukraine: »Wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung für die Ukraine, nicht zuletzt aufgrund der dort verübten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg.«
Man grenzt die deutschen Verbrechen in der Sowjetunion einfach auf das Gebiet der heutigen Ukraine ein. Beide Bekenntnisse drücken den Wunsch aus, dass die Erinnerung an Holocaust und Vernichtungskrieg der deutschen Machtentfaltung nicht länger im Weg stehen darf. Man kann das einen » erinnerungskulturellen Schlussstrich« nennen, weil er durch die Schule der sogenannten staatlichen Erinnerungskultur gegangen ist: »Unsere Erinnerungskultur darf keine Plattform bieten für Rechtfertigungen russischer Kriegsverbrechen. Man darf auch der rechtsradikalen Regierung in Israel keine Plattform geben, um ihre Kriegsverbrechen in Gaza unter Verweis auf die Geschichte des Holocaust zu rechtfertigen«, konnte man im vergangenen Jahr im Philosophie-Magazin lesen.
Deutschland hat gezeigt, dass man Millionen Juden, Sowjetbürger, Serben und viele andere ermorden kann, ohne viel dafür zahlen zu müssen.
Deutschland hat gezeigt, dass man Millionen Juden, Sowjetbürger, Serben und viele andere ermorden kann, ohne viel dafür zahlen zu müssen. Der Nachweis, dass solche Massenmorde überwiegend straflos möglich sind, hat Folgen bis heute. Ohne Deutschland gäbe es die Hamas nicht. Wenn irgendein heute existierender Staat sein Existenzrecht verwirkt hat, dann Deutschland. Doch es ist reicher denn je. Das meinte Paul Celan, als er schrieb: »Die Deutschen haben die Welt nicht unterwerfen können – sie durchfaulen sie jetzt.«
Nach Ansicht der Deutschen findet das »Vierte Reich« jetzt anderswo statt. Die neuen Faschisten sind die ehemaligen Alliierten und die Regierung Israels. Das Ressentiment gegen die Russen wird durch die Wut auf Donald Trump ergänzt. Die Deutschen träumen von einem Zweifrontenkrieg gegen Russen und Amis. Auf einem Wahlplakat von Volt stand: »Mit einem starken Europa gegen Trump und Putin.« Ihre neue Parole heißt: »Waffen für die EU-Armee!« Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nennt den »Angriffskrieg Russlands und den Wertebruch Amerikas« einen »doppelten Epochenbruch«.
Es war schon damals klar, dass die völkische Wiedervereinigung bei den nachfolgenden Herrschaftsmilieus zu einem neuen Größenwahn und zu neuer Unberechenbarkeit führen muss. »Nie wieder Deutschland« war 1989 die richtige Losung und unser Wissen um die Aussichtslosigkeit dieser Position rechnete schon damit, dass auch die »Antideutschen« verschwunden sein werden, wenn es darauf ankommt.
Günther Jacob
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Mach was dran
Komischer Gedanke neulich: dass, wenn die AfD-Nazis übernehmen, niemand mehr da sein könnte, sie uns vom Hals zu schaffen. In Großbritannien führt Nigel Farage die Umfragen an, in Frankreich wartet Marine Le Pen; in den USA ist der Faschismus schon in Arbeit, und von Russland wollen wir nicht reden.
Schon darum mag ich, den obszön strammen Sprüchen unserer Kriegstüchtigen zum Trotz, nicht ans neue Unternehmen Barbarossa glauben, und steht man, was in Deutschland schnell passiert, jemandem aus der Ukraine gegenüber, wird die Vorstellung grotesk, man müsse zu der Erklärung ansetzen, in der Angelegenheit sei der Russe der Gute und der Deutsche der Böse; was immer der Westen zu der Sache beigetragen hat. (Er hat kraft Versailles auch zum Zweiten Weltkrieg beigetragen, aber nur Revanchisten finden, das nehme die Deutschen aus der Verantwortung.)
Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine war keine deutsche Idee, und das vergleichsweise demilitarisierte Merkel-Deutschland haben nicht zuerst Boris Pistorius und Annalena Baerbock auf dem Gewissen, auch wenn das antideutsch einleuchtet.
Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine war keine deutsche Idee, und das vergleichsweise demilitarisierte Merkel-Deutschland haben nicht zuerst Boris Pistorius und Annalena Baerbock auf dem Gewissen, auch wenn das antideutsch einleuchtet. Dass sich hiesige Rüstungskonzerne die Hände reiben, hat seinen Grund zunächst darin, dass es die russischen tun, und wenn mahnend von Militarisierung die Rede ist, sei fairerweise nicht vergessen, dass von den deutschen Armeen des Kalten Kriegs nur ein Viertel übriggeblieben war.
Seine zur Soft-Power-Waffe gemachte Auschwitz-Zerknirschung muss man dem Land aber nicht schon deshalb nachsehen, weil es jetzt rechts überholt wird, und umso weniger, als in seiner liberalen Presse vom israelischen »Menschheitsverbrechen« die Rede ist, während die kommenden Leute es für »Schuldkult« halten, an das zu erinnern, was die Deutschen sich gern als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zurechtlügen.
Widerwärtig deutsch ist und bleibt der »Radikalfaschismus« (Ernst Nolte), und es geht über bloßes Kalkül hinaus, dass Le Pen die AfD für nazistisch hält. Wider das Gesindel wäre, falls eine Brandmauer im Ulbricht’schen Sinn nicht in Frage kommt, mit Väterchen Degenhardt etwas in Stellung zu bringen, was weder den »neuen Nazis« noch den »Chemiekonzernen« gehört: »So wie es ist, ist es geworden, eben deshalb ändert’s sich, / in diesem Land; ist schon viel reif trotz alledem ist es noch weit, / und muß Verschiedenes passieren – paar Reformen tun es nicht.«
Wir wären dabei.
Stefan Gärtner
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Krise verpennt
»Die Deutschen sind krisenmüde«, so fasst die »Tagesschau« das Ergebnis der Langzeitstudie »Die Ängste der Deutschen« zusammen, die seit 1992 alljährlich weitergeführt wird. Kommt diese Müdigkeit nicht etwas ungelegen? Wer würde die Bewohner:innen dieses Landes schützen, wenn die bei 41 Prozent der Befragten vorhandene »Sorge vor einem Krieg mit deutscher Beteiligung« Wirklichkeit wird? Vor 35 Jahren war die Sorge vieler Linker und ausländischer Beobachter:innen eher, wie man andere Länder vor einem »Vierten Reich« schützen könne.
Als dieses Deutschland Anfang der neunziger Jahre völlig überraschend und mit nationalistischem Selbstverständnis wieder Fahnen schwenken konnte und Pogrome folgten, war man hierzulande noch etwas beschämt über all das, was da aus Deutschland hervorbrach. Mit Lichterketten zeigten die Bürger:innen nicht nur ihre Solidarität mit den Opfern, sie waren vorrangig auch ein Signal dafür, dass man sich um die internationale Reputation des Landes sorgte.
»Etwas Besseres als die Nation« wollten hingegen die Wohlfahrtsausschüsse, ein Konglomerat von Linken und Autonomen, Musiker:innen, Künstler:innen und Journalist:innen, die mit einem Angebot von Veranstaltungen Aufklärung propagierten und Ostdeutschland auf ein westlich definiertes Links drehen wollten.
Das fand zumindest im Westteil der Republik großen Zuspruch, erreichte aber dasselbe Milieu, das die Veranstaltungen ausgerichtet hatte: Ein Line-up zumeist linker weißer Männer predigte den Bekehrten, man blieb unter sich.
2025. Kollektive Erschöpfung. Die müden Äuglein blinzeln ungläubig: Ein Szenario des Grauens hat sich aufgebaut.
Auf dem Konkret-Kongress 1993 in Hamburg, in dessen Folge sich die Linke dauerhaft verändern sollte, waren die geladenen Akteur:innen streitbarer. Theorie versus Praxis. Was kann man dem deutschen Wahnsinn entgegensetzen? Wie lassen sich Geflüchtete schützen und was genau kann ich dabei tun?
Dass die Deutschen sich in ihrer Gesamtheit für eine pluralistische Gesellschaft öffnen mögen, blieb eine Utopie. Vielleicht ließen sich zumindest starre Beziehungskonstrukte öffnen? Das Zauberwort hieß Polyamorie, in deren praktischer Ausführung sich nicht wenig Linke versuchten. Doch auch hier erschöpfte man sich im Experimentieren. Dazugeladene wurden spätestens dann wieder verlassen, wenn es um Reproduktion ging. Diese sollte exklusiv vor der heimischen Bücherwand stattfinden.
2025. Kollektive Erschöpfung. Die müden Äuglein blinzeln ungläubig: Ein Szenario des Grauens hat sich aufgebaut. Wir hatten genügend Gelegenheiten … zumindest uns daran zu gewöhnen. Zzzzzzzz.
Minou Zaribaf
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Bleiben im Lande und kritisieren es täglich
Deutschland kritisieren? Na klar: Die von Deutschland mitgestaltete und mitverwaltete imperialistische Konkurrenz produziert lokal und global lauter gute Patriot:innen. Abhängig vom nationalen Wirtschaftswachstum, das auf deren Kosten und Knochen realisiert wird, treten sie für das Recht ihrer jeweiligen Nation auf Erfolg ein. Dafür wird die Menschheit ideell (Staatsbürger:innen) und wirklich (Staat) durchsortiert, in gute, unzuverlässige und schädliche Inländer:innen sowie in nützliche und feindliche Ausländer:innen. Hetzkampagnen, Massenmorde, Pogrome, Grenzregimes, schikanös-repressive Elendsverwaltung et cetera in staatlicher und zivilgesellschaftlicher Verantwortung sind die logische Konsequenz.
Schuldige werden gesucht und gefunden: Ausländer:innen, Sozialhilfeempfänger:innen oder zumindest ausländischen Sozialhilfeempfänger:innen, je nach Weltanschauung auch Linke und Queers.
Dass »die EU-Integration« nicht »zum Sprungbrett deutscher Weltmachtphantasien geworden« sei, glaubt auch nur die Jungle World. Deutsche Waffen, deutsche Autos, deutsche Maschinen und deutsches Geld bewähren sich in aller Welt. Dass sie dies nicht (mehr) genügend tun, zeigt, an welch weltmächtigem Anspruch sich dieses Land misst.
Schuldige dafür werden gesucht und gefunden: Ausländer:innen, Sozialhilfeempfänger:innen oder zumindest ausländischen Sozialhilfeempfänger:innen, je nach Weltanschauung auch Linke und Queers. 60 Jahre demokratischer Bildungsarbeit haben dafür gesorgt, dass das deutsche Proletariat im Sozialneid nach unten nicht mehr eine Waffe von Staat und Kapital zur Senkung der Lohnkosten sieht, sondern die richtige patriotische Moral, weswegen es immer öfter bei der AfD heimisch wird. Diese gilt zur Zeit als unzuverlässig, weil sie das Ausbluten der Ukraine im Stellvertreterkrieg für dEUtsche Interessen für einen Fehler hält und die Ukrainer:innen lieber unter Putins Herrschaft sähe.
Opposition gegen diese Zustände, hier und weltweit? Es gibt da andere Projekte: dem israelischen oder dem palästinensischen Staatsprojekt die Daumen drücken oder beiden. Oder völkisch-kulturelle Identitätspflege, deutschnational oder postkolonial oder doch lieber imperialistischen Universalismus. Und links: Sprechorte reflektieren oder Stalin lesen.
Die Liste potentieller Auswanderungsziele ist leer. Also bleiben wir im Lande und kritisieren es täglich.
Gruppe Widerspruch
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Was ist schon typisch (anti)deutsch?
Normal war Deutschland noch nie. Aber welches Land ist schon normal und was soll das sein? Normal nationalistisch? Normal geschichtsrevisionistisch mit okayer Einwanderungspolitik? In einem normalen Land sagt man sich »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«, alles dazwischen ist Verhandlungssache.
Unterzog ich früher jede Äußerung der Mitbürger:innen einem Deutschtest, habe ich diese Schnäppchenmarktsoziologie immer weiter hinten in mein persönliches Museum für Ur- und Frühgeschichte gestellt. Für Gegenwartsdiagnosen scheint mir die Kategorie »typisch deutsch« weitgehend unbrauchbar, unzureichend, unlustig. Socken in Sandalen werden nun von australischen Indie-Rock-Bassistinnen getragen. Getrennt zahlen war nie eine deutsche Exklusivität. Das war nur das Verhältnis zu Israel und zum Antisemitismus.
Nur in einer mentalen Haltung scheint mir die Diagnose noch angemessen: Lieber nichts als das Falsche sagen und schon gar nicht tun. Lieber Team Kühler Kopf als Team Hitzkopf. Lieber mal abwarten, als etwas riskieren. Lieber vor Hitler warnen, als Hitler bekämpfen. Lieber raushalten als einmischen – ungefähr so, denn eine Landsleute-Pauschalisierung ist ja kein Laborwert.
Die Forderung deutscher Linker nach unbedingter Solidarität mit Israel war in der Zeit, als diese Zeitung gegründet wurde, die nicht unmutige Provokation an den Rest der Gang, sich mit ihren eigenen Grundlagen auseinanderzusetzen. Mittlerweile ist aus dieser Kritik eine mitunter fast bequeme Identität geworden.
Als Deutschland seine Einheit erfuhr, krachte das Land auseinander, dessen Staatsbürgerin ich zu der Zeit war. Jugoslawien verschwand, Kroatien feiert heuer 30 Jahre Vertreibung der Serben. Normal ist in Kroatien, dass die Aufarbeitung der eigenen Kriegsverbrechen als das eigentliche Verbrechen gilt. Normal ist, dass Festivals abgesagt werden, weil Rechtsradikale aufmarschieren und Journalist:innen eingeschüchtert werden.
Und dennoch würde ich das größte Problem Kroatiens nicht in der nationalistischen Ideologie verorten, sondern in der Normalität von Vetternwirtschaft und Korruption und der damit verbundenen Instabilität von Rechtsstaat und unabhängiger Justiz. Jeder, der den Status quo in Frage stellt, bringt ein vielfaches Mehr an Mut auf als in Deutschland.
Die Forderung deutscher Linker nach unbedingter Solidarität mit Israel war in der Zeit, als diese Zeitung gegründet wurde, die nicht unmutige Provokation an den Rest der Gang, sich mit ihren eigenen Grundlagen auseinanderzusetzen. Mittlerweile ist aus dieser Kritik eine mitunter fast bequeme Identität geworden.
Dass ausgerechnet die Zeitung der Antideutschen sich treu geblieben ist und die Aufarbeitung der antideutschen Geschichte betreibt, ist eine gar nicht hoch genug zu würdigende Leistung. Eine ganz und gar unnormale. Aber vielleicht auch eine durch und durch deutsche.
Doris Akrap
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Drittes Reich, Dritte Welt
Zu den vielen Dingen, die man sich vor 35 Jahren nicht mal alpträumen hätte lassen, zählt wohl, dass antideutsch es als Lehnwort ins Polit-Vokabular englischsprachiger Linker schaffen sollte – und zwar als Schmähung. Sie bezeichnet dort das offenbar rätselhafte Phänomen, dass jemand Skrupel hat; Skrupel, sich der Front der Völker und Kulturen gegen das Zentrum des Bösen anzuschließen, den Westen beziehungsweise das, was dieser selbst von sich übrig gelassen hat. Skrupel, sich der Multitude gegen die Macht anzuschließen, Skrupel, den Islam zu bejubeln, Skrupel, Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat als bloßes Blendwerk abzutun, mit dem sich die internationale Plutokratie tarnt; letztlich Skrupel, Pogrome als Heldentaten zu bejubeln.
Wer sich vorbehaltlos dem dortigen völkischen Aufbruch verschrieben hat – und das tut jeder, der, statt die Verheerungen des Weltmarkts zu kritisieren, ausgerechnet aus diesen Verheerungen den »neuen Menschen« erwachsen sieht – steht fester in deutscher Tradition, als es die Bundesrepublik je tat.
Als antideutsch beschimpft zu werden, bedeutet, positiv gesehen, sich erinnern zu können, wer und warum derlei Ansichten, die leider den meisten heutzutage als links erscheinen, in die Welt gesetzt hat: Kaiser-Deutschland, das sich in Nazi-Deutschland zur Kenntlichkeit entstellte. Dieses Deutschland gab einst das Paradebeispiel des sich stets übervorteilt wähnenden Kollektivs, das hysterisch darauf beharrte, dass seine Lebensart zersetzt, sein Blut verunreinigt, sein Boden entzogen würde von einem artfremden, jüdischen Prinzip, das alles in Fluss bringt, austauschbar macht und der kühlen Rationalität unterwirft.
Klingt auch heute noch irgendwie bekannt? Aus gutem Grund, denn ideologisch wie auch praktisch gab dieses Deutschland das Modell der nationalen Befreiungsbewegung vor. Man kann es kaum anders sagen: Das Dritte Reich ging unter, um in der Dritten Welt fortzuleben. Wer sich vorbehaltlos dem dortigen völkischen Aufbruch verschrieben hat – und das tut jeder, der, statt die Verheerungen des Weltmarkts zu kritisieren, ausgerechnet aus diesen Verheerungen den »neuen Menschen« erwachsen sieht – steht fester in deutscher Tradition, als es die Bundesrepublik je tat, auch wenn es unter deren Oberfläche noch Jahrzehnte tiefbraun blubberte.
Zweierlei scheint so 35 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung klar auf der Hand zu liegen: dass deutsche Nazis die Bundesrepublik – solange sie wenigstens noch von fern daran erinnert, was die Westalliierten einst anstrebten – als undeutsch so verabscheuen wie Antiimperialisten die von ihnen the Antideutsche Genannten als Volksverräter im globalen Maßstab.
Uli Krug
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Alle Haymat ist fremd
Deutschland ist und war schon immer eine Migrationsgesellschaft, geprägt von der Begegnung differenter Kulturen, Religionen und Denktraditionen. Das macht dieses Land zur Haymat unterschiedlicher auf Differenz beruhender Lebensentwürfe. Dieser Reichtum findet seinen Ausdruck in sozialen Kämpfen, die überall dort hervortreten, wo Menschen ihre Existenz behaupten und ein besseres Leben anstreben. Wo jedoch »Deutschland« gebrüllt wird, verkümmert dieser Reichtum zu einer Leere, die sich im Namen von Einheit und Homogenität wie das »Nichts« in Michael Endes »Unendlicher Geschichte« breitmacht.
Die Rechten, die gegen Differenz hetzen, verfehlen ironischerweise genau das, was sie lauthals einfordern: die Erfahrung, einen Platz in dieser Welt einnehmen zu dürfen, und damit echte Beheimatung durch gegenseitiges Interesse und Anerkennung. Aus Angst vor dem Fremdgemachten und damit vor ihren eigenen abgespaltenen Wünschen verpassen sie die Realität ihres eigenen Landes.
Was existiert, ist eine (post)migrantische Gesellschaft der Vielen – ein lebendiger Gegenentwurf zum Hass der Rechten und zur Angst vor dem Risiko einer echten Begegnung.
Diese Realitätsverleugnung und damit die Vorstellung eines von Differenz bereinigten Deutschlands erfasst auch immer wieder nicht wenige Linke, wenn sie – zwar in Empörung, aber gemäß derselben Mythologie – von einem ewig deutschen oder unveränderbar weißen Deutschland sprechen und dabei die (post)migrantische Wirklichkeit ausblenden.
Spätestens seit dem Mauerfall vor 36 Jahren wird die Geschichte dieses Landes aus jüdischer, aus migrantischer, aus queerer Perspektive entschieden neu erzählt, und sie spricht jeder Phantasie einer weißen Volksgemeinschaft Hohn. Dabei geht es nicht um die Verharmlosung antisemitischer, rassistischer oder sexistischer Gewalt oder der gegenwärtigen autoritären und faschistischen Formierung, sondern um die Erkenntnis, dass es ohne Migration keine Gesellschaft gibt und ohne ihre jahrzehntelangen Kämpfe um soziale Rechte keine Demokratie.
»Deutschland« ist kein handelndes Subjekt der Geschichte und »die Deutschen« gibt es nicht und gab es nie. Was existiert, ist eine (post)migrantische Gesellschaft der Vielen – ein lebendiger Gegenentwurf zum Hass der Rechten und zur Angst vor dem Risiko einer echten Begegnung. Sie gilt es als Haymat zu verteidigen und zu stärken.
Massimo Perinelli