Der 8. Oktober dauert an
»Netanjahu = Hitler; Gaza = Auschwitz; Großisrael = Großdeutschland« – Deutschland, 27. September 2025. Am Tag 721 nach dem größten Massenmord an Jüd:innen seit der Shoah hält es jemand für eine gute Idee, ein Schild mit dieser Aufschrift auf einer linken Demo zu präsentieren.
Damit ist schon einiges über die dystopische Wirklichkeit gesagt, in der sich Jüd:innen am zweiten Jahrestag des Massakers und der systematisch verübten sexuellen Gewalt durch die palästinensisch-islamistische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 wiederfinden. Man ist abgestumpft. Nicht nur der »Schwarze Sabbat« und das damals entstandene Bildmaterial sind dafür verantwortlich – sondern auch der sogenannte 8. Oktober, der den Beginn der globalen antisemitischen Eskalation bezeichnen soll.
Die Chimäre aus Erinnerungsabwehr und israelbezogenem Antisemitismus reckt ihren feuerspeienden Hals – und weit und breit ist kein griechischer Held wie Bellerophon in Sicht, der das Monster mit einem Bleipfeil niederstrecken wird.
Mit langem Anlauf hat die Linkspartei es ausgerechnet wenige Tage vor dem Jahrestag doch noch geschafft, eine bundesweite Kundgebung gegen den Gaza-Krieg mit zu organisieren. Die Hamas, ihre Massaker und die von ihr verübte sexuelle Gewalt spielten im Aufruf nur eine verschwindende Nebenrolle.
Kein Wunder, dass antisemitische Botschaften, wie die auf dem erwähnten Schild, inzwischen wie selbstverständlich verbreitet werden können, und in der Linken viel größere Akzeptanz finden als zuvor. Einige mögen das mit dem Krieg in Verbindung bringen – womit man sich weigert zu erklären, warum damit Antisemitismus gerechtfertigt sei. Benjamin Netanyahu, Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir kann man schließlich auch kritisieren, ohne Gewalt gegen Jüd:innen zu schüren.
Die Chimäre aus Erinnerungsabwehr und israelbezogenem Antisemitismus reckt ihren feuerspeienden Hals – und weit und breit ist kein griechischer Held wie Bellerophon in Sicht, der das Monster mit einem Bleipfeil niederstrecken wird. Die sich sukzessiv ausbreitende »Gewalt der Erinnerungsverweigerung« (Samuel Salzborn) vermischt sich mit in der Linken verbreiteten antiisraelischen Denkmustern.
Ressentiments unterschiedlicher politischer Milieus
So lassen sich die Ressentiments unterschiedlicher politischer Milieus bedienen – ohne dass man dafür die Hufeisentheorie bemühen müsste. Auch der Ruf nach einem Helden sollte lediglich metaphorisch verstanden werden – was zu erwähnen notwendig scheint angesichts der Versuche, den Kampf gegen Antisemitismus für die Umsetzung autoritärer Bedürfnisse zu instrumentalisieren.
Damit ist klar, warum Einsamkeit zum vorherrschenden Gefühl linker (zionistischer) Jüd:innen geworden ist. Besonders anschaulich formulierte das die Philosophin Eva Illouz, die sich bis zum 7. Oktober als »Frau, als Jüdin, als Nordafrikanerin und Immigrantin« geradezu selbstverständlich als der Linken zugehörig gefühlt hat: »Wer sonst als die Linke sollte mich schützen?« Doch nach dem 7. Oktober zeigte sich, »wichtige Teile der progressiven Linken sind moralisch bankrott«. Damit wird deutlich, wie sehr sich aus einer jüdischen Perspektive die Zeit in ein Davor und ein Danach zerteilt.
Stetige Angriffe auf die Zivilgesellschaft
In Israel ist es zum geflügelten Wort geworden, dass der 8. Oktober andauert. Durch die israelische Gesellschaft ziehen sich tiefe Risse. Sie entstehen nicht nur durch die globale Entsolidarisierung, sondern auch durch die Entwicklungen der vergangenen Jahre: Die stetigen Angriffe auf die Zivilgesellschaft durch die extrem rechte Regierung, ihr Abbau demokratischer Errungenschaften, ihre Mitverantwortung für die Gewalt des 7. Oktober und der Krieg haben tiefe Spuren hinterlassen.
Die israelische Linke ist nicht nur durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte geschwächt, sondern auch davon, dass viele ihrer Anhänger:innen, die in den Kibbuzim rund um den Gaza-Streifen lebten, ermordet wurden. Die junge Generation ist in einer Zeit akuter Bedrohung durch das iranische Mullah-Regime und seine Schergen im Libanon, Jemen, Irak, in Syrien und Gaza aufgewachsen, schwer von Kriegserfahrungen im Gaza-Streifen gezeichnet und von der Ungewissheit, wohin diese Gesellschaft steuert.
Jüd:innen in der Diaspora haben Angst und Sorge um den jüdischen Staat und sehen sich Bedrohungen von extremen Rechten, Islamist:innen und antizionistischen Linken ausgesetzt.
Jüd:innen in der Diaspora fühlen sich zerrissen. Sie haben Angst und Sorge um den jüdischen Staat und sehen sich Bedrohungen von extremen Rechten, Islamist:innen und antizionistischen Linken ausgesetzt – lange hat der Autor dieses Textes diese drei nicht in einem Satz genannt, doch der Angriff eines linken Kommilitonen auf den Lehramtsstudenten Lahav Shapira in Berlin und der Mord an den israelischen Botschaftsmitarbeiter:innen Sarah Milgrim und Yaron Lischinsky in Washington, D.C., sind eine Folge langfristiger Radikalisierungsprozesse. Die Gegenwart ist geprägt von Entsolidarisierung. Wenn beispielsweise Geschäfts- und Restauranteigentümer:innen Zettel aushängen, auf denen Israelis oder gleich Jüd:innen der Eintritt verwehrt wird, ist der Aufschrei zwar groß, hält aber nicht lange an und zieht kaum Konsequenzen nach sich.
Aber auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft normalisiert sich antisemitisches Denken. Der Rückzug in jüdische Communitys verspricht ein bisschen Erholung. Jüd:innen leben unter dem ganzen Ausmaß der Hybris des »wiedergutgewordenen« Deutschlands. Die Dystopie ist Wirklichkeit geworden.