Aux armes, citoyens!
Während Russland seit drei Jahren versucht, die Ukraine zu unterwerfen, rüsten Bundesrepublik und Nato auf. Katja Woronina kritisierte illusionäre linke Friedensforderungen in Bezug auf die Ukraine (»Jungle World« 31/2025). Ewgeniy Kasakow forderte, im Krieg Russlands gegen die Ukraine keine Partei zu ergreifen, sondern für Kriegsuntauglichkeit auf beiden Seiten zu kämpfen (33/2025).
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Die pazifistische und antimilitaristische Opposition gegen die vermeintliche Kriegstreiberei in Deutschland offenbart die Unfähigkeit der Linken, die autoritäre Formierung im In- und Ausland politisch auf den Begriff zu bringen. So wähnt man sich zwar solidarisch mit der angegriffenen Ukraine, verweigert aber gleichzeitig das, was diese derzeit am nötigsten braucht: Waffen. Diese Politik der Äquidistanz angesichts der Achse Russland–China–Iran äußert sich hierzulande als Abwehrreflex gegen eine notwendige Sicherheitspolitik.
Der russische Krieg gegen die Ukraine tobt seit über zehn Jahren und destabilisiert die Weltordnung. Die russische Armee vergewaltigt, foltert und mordet in der Ukraine, um diese nicht nur als staatliche, sondern zugleich als historische, räumliche und kulturelle Entität auszulöschen. Währenddessen glänzt die deutsche Linke mit ohrenbetäubendem Schweigen. Und wenn sie einmal nicht schweigt, demonstrieren sogenannte Internationalisten für die suizidale Selbstverneinung der Ukraine; ob auf der Straße oder in Pamphleten. Die Unterwerfungspraxis dieser »Peacemongers« (vgl. Marx’ Brief an Engels zu Russlands Krieg gegen Polen, 6.8.1866) bleibt fest in der bundesrepublikanischen Friedensbewegung verhaftet, die immer schon nicht nur eine »nationale Erweckungsbewegung« (Wolfgang Pohrt), sondern die fünfte Kolonne der Moskowiter gewesen ist – was sich derzeit wieder bestätigt.
Wenn Personen wie Ole Nymoen und, an dieser Stelle, Ewgeniy Kasakow den Ukraine-Krieg unter kapitalistischen Normalvollzug subsumieren, liegen sie nicht nur falsch, sondern verdrängen geradezu die Spezifik der russischen Geschichte sowie des russischen Herrschaftscharakters. In Russland sind Souveränität und Ökonomie noch ungeschieden. Diese Herrschaftsspezifik, die Marx asiatische Produktionsweise nannte, entbehrt einer entwickelten bürgerlichen Gesellschaft auf der Basis von Privateigentum. In Russland ist kein Eigentum geschützt vor dem Zugriff der Staatsmacht, und Zugehörigkeit zur Macht oder Loyalität zu ihr sind Mittel zur Bereicherung, während der Großteil der Bevölkerung ökonomisch depraviert und politisch völlig machtlos ist.
Würde Russland siegen, ob militärisch oder politisch mit Hilfe seiner Agenten und Agenturen, dann wären die Bedingungen, die eine befreite Gesellschaft ermöglichen könnten, passé.
Dem Wesen dieses Despotismus entspricht seine Rücksichtslosigkeit nicht nur gegenüber ukrainischen Zivilisten, sondern auch gegenüber den eigenen Staatsangehörigen, die an der Front verheizt werden. Das Bild, das in Russland medial von der Ukraine gezeichnet wird, ist dabei zwiespältig; es oszilliert zwischen der bekannten ideologischen Metapher des von einer angeblichen nationalsozialistischen Herrschaft zu befreienden Brudervolkes und dem Wunsch, jenen Bruder für seinen Verrat – das Überlaufen zum Westen – zu bestrafen und ihn letztlich zu vernichten, weil er auf seine Unabhängigkeit besteht. Die Folge sind Kriegsgräuel wie die willkürlichen Massaker an Zivilisten in Butscha und Isjum, die systematische Jagd auf Zivilisten mit Drohnen in der Stadt Cherson, die Zerstörung ganzer Städte wie in Mariupol, sowie die Liquidation der Gesellschaft in den besetzten Teilen der Ukraine mittels Deportationen von Kindern und Jugendlichen, Zensur, Indoktrination und Folter.
Die Gewalt resultiert nicht allein aus dem Kriegszustand, sondern ist auch Ausdruck des russischen Sozialcharakters. Im gesellschaftlichen Innenleben äußern sich diese Verkehrsformen als terroristische Ausübung von Gewalt des Staats gegen seine Bürger, gegen identifizierte Feinde des Staatsapparats sowie im brutalisierten Verhältnis der Bürger zueinander, insbesondere gegen homosexuelle und queere Menschen sowie ethnische Minderheiten. Das Quälen von Kameraden und Untergebenen ist in der russischen Armee immer weitverbreitet gewesen, und seit dem Angriff auf die Ukraine gibt es unzählige Berichte russischer Soldaten, die geschlagen, in Gruben festgehalten oder von Vorgesetzten erpresst wurden. Ukrainische Kriegsgefangene werden misshandelt und immer öfter einfach exekutiert, warnt beispielsweise die UN-Menschenrechtsmission für die Ukraine.
Ungeschiedenheit von Souveränität und Ökonomie
Aufgrund dieser Gewaltpraxis und Ungeschiedenheit von Souveränität und Ökonomie, auf der sie letztlich beruht, erscheint der russische Soldat weniger als Staatsbürger in Uniform, sondern als uniformierter Verbrecher. Ersterer verkörpert die allgemeine Sittlichkeit des Staates in der Bereitschaft, für diesen notfalls zu töten und zu sterben. Letzterer agiert hingegen als Raub- und Glücksritter mit einem Freibrief zur Plünderung, Gewaltanwendung und Mord. Für den Krieg angeworben werden russische Soldaten allgemein durch horrende finanzielle Lockmittel oder, in zehntausenden Fällen, die Aussicht auf Erlass einer Gefängnisstrafe. Gänzlich verschwunden ist die Trennung zwischen Armee und Raubracket bei den russischen Söldnerverbänden in Afrika, die Kriegsverbrechen begehen und in großem Maßstab am Gold- und Diamantenhandel beteiligt sind.
Dieser autoritäre Kadavergehorsam muss einer universalistischen Linken ein Dorn im Auge sein, weil er sämtlichen emanzipatorischen Ansprüchen zuwiderläuft. Daraus folgt konsequenterweise, die Ukraine nicht nur mit Hilfslieferungen zu unterstützen, sondern auch die militärische Befähigung Europas zu fordern, sich aktiv verteidigen zu können. In Solidarität gilt es überdies mit den ukrainischen, belarussischen und russischen Bürgern zusammenzustehen, deren Kampf und Sabotage sich gegen die putinistische Staatssklaverei richtet. Würde Russland siegen, ob militärisch oder politisch mit Hilfe seiner Agenten und Agenturen, dann wären die Bedingungen, die eine befreite Gesellschaft ermöglichen könnten, passé. Denn die Basis des Vereins freier Menschen ist die Republik, die, in ihrer liberal-kapitalistischen Form, immerhin die notwendige Grundlage bietet, um die bürgerliche Herrschaft zu analysieren sowie sich in kritischer Absicht zu organisieren.
In durchaus linker Tradition des bewaffneten Kampfs für einen Staat, den es trotz Kritik gegen das Schlechtere zu verteidigen gilt, wäre anzuknüpfen an den Streiter:innen der Pariser Kommune und der Räterepublik. Diese waren mitnichten Pazifisten, sondern agierten im Bewusstsein, dass ihre private – bourgeoise – Freiheit über die Form des politischen Gemeinwesens vermittelt ist, deren citoyens sie waren. Um als weniger unfreie Bürger leben zu können, begaben sie sich in den Kampf um Leben und Tod für die soziale Republik.
Das dauererregt-impotente Hirngespinst eines kommenden Aufstands
Gegenwärtig geistert jedoch nur noch der Dauerbrenner Militanz und das dauererregt-impotente Hirngespinst eines kommenden Aufstands durch die geschichtsvergessene Linke, um sich vor der Gewaltfrage wegzuducken. Sich zur Realität zu verhalten, hieße aber, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie der Ukraine, dem Baltikum und dem übrigen Osteuropa konsequent zu helfen ist. In diesen Ländern wünscht man sich nämlich ein in der Verteidigung geeintes Europa, in dem Deutschland als Verbündeter seine Pflichtschuldigkeit erfüllt. Gemessen an seiner Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft bleibt es nämlich weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Was auch daran liegt, dass sich die Linke in ihrer realitätsverweigernden Trotzhaltung der Debatte verweigert, anstatt sich mit Forderungen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einzubringen.
So sind trotz eines bitteren Beigeschmacks die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Erhöhung der Rüstungsausgaben und Maßnahmen gegen die hybride Kriegsführung Russlands zu begrüßen. Wirkungsvoll wäre es auch, eingefrorene Vermögenswerte nicht nur des russischen Staates, sondern auch russischer Oligarchen an die Ukraine zu übergeben. Des Weiteren sollte eine emanzipatorische Linke für eine antifaschistische Volksfrontpolitik mit der demokratischen Bürgerschaft eintreten. Was eine Abkehr von Karl Liebknechts Losung von 1915 bedeutet, der Hauptfeind stehe im eigenen Land und besolde mit Kriegskrediten den imperialistischen Ostfeldzug. Insbesondere autoritäre K-Gruppen erweisen sich mit solchen Parolen als putinistische Lautsprecher.
Und schließlich bedarf es der Einsicht, dass sich die Drohgebärden der Kreml-Propaganda hierzulande als nihilistischer Defätismus niederschlagen, der ein Untergangsszenario nach dem anderen für die Ukraine zeichnet, um es als selbsterfüllende Prophezeiung zu installieren. Mit pazifistischer und antimilitaristischer Unterwerfungsgebärde beschwört man die Aussichtslosigkeit des ukrainischen Widerstands gegen ein als unbezwingbar imaginiertes Mafiaregime und verrät sich letztlich selbst mit der Forderung nach einem Kapitulationsfrieden.
Um die globale Krisensituation, den innenpolitisch reaktionären Autoritarismus und den erstarkenden identitären Antiuniversalismus zu verstehen, muss man die politische Weltlage analysieren.
Hingegen leistet die Ukraine seit elf Jahren erbitterten Widerstand und hat sich zum taktischen und militärtechnologischen Vorbild entwickelt. Hätte sie die volle Unterstützung der liberal-kapitalistischen Länder und der Nato, sähe die Kriegssituation ganz anders aus. Der ukrainische Überlebenskampf richtet sich gegen eine drohende Katastrophe, die auch auf das übrige Europa zukommen wird, wenn der autoritären Formierung im In- und Ausland nichts entgegengesetzt wird.
Um die globale Krisensituation, den innenpolitisch reaktionären Autoritarismus und den erstarkenden identitären Antiuniversalismus zu verstehen, muss man die politische Weltlage analysieren. Nur so verkommt der politische Kampf gegen autoritäre Kräfte nicht zur Symptombekämpfung, sondern ermöglicht eine emanzipatorische Politik, die sich gegen die Ursachen Ausbeutung und Herrschaft richtet. Nicht zuletzt könnte dies die derzeit unterwerfungspazifistische Linke unter einem gegenwartsbezogenen und realpolitischen Antifaschismusbegriff versammeln, anstatt weiterhin als abstraktes Sektierertum mit antiimperialistischen Welterklärungsansätzen und antikapitalistischen Kampfbegriffen aus dem vorigen Jahrhundert im Dunkeln zu tappen.